Sorry, No posts.
Menschen, die gerne lesen, können dies auf ganz besondere Weise tun.

Alle wollen helfen

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Vor einigen Tagen besuchte ich ein Heim, in dem 50 Geflüchtete darauf warten, dass über ihren Asylantrag entschieden wird. Ich war dort, weil ich bei einem Theater-Workshop für Kinder assistierte. Das Heim ist ein ehemaliges Hotel. Wir hatten Stifte und Papier dabei. Die Begeisterung über unser Kommen war groß. Nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Erwachsenen. Einige setzten sich zu uns und machten mit. Dies, obwohl wir ein wirklich sehr kindliches Spiel spielten.

Ich musste dann mal aufs Klo. Es stellte sich heraus, dass es keine Besuchertoilette gab. Da sprang sofort ein junger Mann, dem ich vorher Kekse angeboten hatte, auf und sagte: „Bruder, kannst mein Klo!“ Der Junge hatte eine Basketballmütze an und ging mit einem coolen, schlenkernden Gang. Wir liefen durch den langen Hotelflur, dann öffnete er die Tür und ich stand in seinem Zimmer. Früher war es vermutlich ein Doppelzimmer. Jetzt standen hier vier Betten.

Das Bad war verschlossen. Mehmet war drin. Wir warteten. Ich sah mich um. Alles war ordentlich. „Was machst du Arbeit, Bruder?“, fragte mich der Junge. Ich sagte, dass ich Bücher schreibe. Er sah mich verständnislos an. Ich sagte „Buch“. Er zuckte mit den Schultern. Ich sagte „schreiben“ und schrieb mit einem imaginierten Stift auf meine linke Hand, die ein Blatt sein sollte. Er zuckte ratlos mit den Schultern und entschuldigte sich dafür, dass er nicht gut Deutsch könne.

Ich wollte ihm so gerne erklären, was für einen tollen Beruf ich habe und schaute mich um. Was mir dann bewusst wurde, war ein kleiner Schock: In dem ganzen Zimmer lag kein Buch!

Plötzlich fiel mir auf, dass ich nur ganz selten irgendwo bin, wo keine Bücher sind. Immerhin schien mein neuer Bruder meine Schreib-Pantomime soweit verstanden zu haben, dass meine Arbeit irgendetwas mit Papieren zu tun hatte. Denn jetzt sagte er „Scheiße, Bruder – ich keine Papiere“, zog die Schublade seines Nachtkästchens auf und holte eine Art Ausweis heraus. „Für Kontrolle Polizei“, sagte er. Auf dem Dokument stand „Aufenthaltsgestattung für die Dauer des Asylverfahrens“. Ich blickte ihn ratlos an. „Kein richtige Papier, das“, sagte er. „… und ich keine Freundin“, schob er noch nach. Dann fasste er seine Situation zusammen: „Keine Papiere, keine Freundin – ich Scheiße.“ Das leuchtete mir ein.

Jetzt ging im Bad die Dusche an. „Mehmet Dusche“, sagte mein Bruder. „Gehen Schwester, andere Zimmer.“ Ich sagte, ich könne auch hinters Haus, aber er meinte: „Nein, Bruder – Schwester gut.“ Wir liefen wieder den Flur entlang und er betrat ohne zu klopfen ein weiteres Zimmer. Eine hübsche junge Frau in Schlafklamotten lag im Bett und starrte die Tapete an. Als sie mich sah, riss es sie hoch. Mein Bruder sagte ihr irgendetwas in seiner Sprache und schickte mich in Richtung Toilette. Mir war dieses unangekündigte Eindringen in einen privaten Rückzugsort furchtbar peinlich, ich stammelte „Sorry, sorry, I’m so sorry“ und fühlte mich entsetzlich doof. Sie stand jetzt stramm zwischen den Betten und sah mich verständnislos an bis ängstlich an. Aber ich musste mittlerweile so dringend auf die Toilette, dass ich im Bad verschwand. Als ich wieder herauskam, bedankte ich mich und nahm wahr, dass auch hier im ganzen Zimmer kein Buch lag.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich denke seit Langem darüber nach, wie ganz speziell ich Geflüchteten helfen kann. Seit meinem Besuch in dem Heim weiß ich es: Diejenigen, die das Auffanglager, das Asylgesetz nennt es „Aufnahmeeinrichtung“, hinter sich gelassen haben, scheinen weder Hunger zu haben noch scheint es ihnen an Kleidern oder anderen Gegenständen des täglichen Lebens zu fehlen. Ihre Hauptprobleme sind die Langeweile, die Angst vor Abschiebung, die Leere, die Perspektivlosigkeit. Anders ist es nicht zu erklären, dass alle so begeistert reagieren, wenn wildfremde Menschen mit ein paar Stiften kommen und etwas Kindisches spielen.

Wenn man mit Leuten spricht, die schon mehr Erfahrung mit Geflüchteten haben, bestätigen sie es: Das Hauptproblem ist die Langeweile. Und nun kommen wir zu uns und unserer Begeisterung für Bücher. Als ich das im Bett liegende Mädchen sah, fehlte mir in diesem Bild vor allem eines: das Buch, das das Mädchen in der Hand hält.

Es gibt nichts Besseres gegen die Langeweile als ein Buch.

Deshalb meine ich: Wir, die wir Bücher lieben, sollten Bücher in die Heime tragen. Bücher in allen Sprachen, die die Geflüchteten verstehen könnten. Gute Bücher, keine aussortierten. Wir sollten Bücher mitbringen und uns hinsetzen und mit den Kindern Bücher anschauen. Wir sollten die großen Kinder und die Erwachsenen fragen, ob wir ihnen vorlesen sollen, wenn ihr Deutsch zu schlecht ist, um selber zu lesen. Ob sie Lust haben, mit uns gemeinsam Bilderbücher anzusehen, in denen Gegenstände abgebildet sind und mit ihnen auf diese Weise Deutsch üben. Wir Büchermenschen sollten helfen, die angstvolle Leere der langen Wartezeit zu bekämpfen. Wir Büchermenschen sollten diesen Menschen Bücher bringen.

P.S.: Ich finde die Bezeichnung „Geflüchteter“ viel schöner als „Flüchtling“. Das Wort „Flüchtling“ macht den Menschen so klein. Die Geflüchteten sind genauso groß wie wir.

P.P.S.: Falls Sie ein spannendes Buch über eine beispielhafte Fluchtgeschichte lesen wollen, dann empfehle ich ihnen Fabio Gedas „Im Meer schwimmen Krokodile“. Es erzählt von einem afghanischen Jungen, der im Alter von zehn Jahren aus seinem Land flieht und ein lebensgefährliches Abenteuer erlebt. Ich habe bei meinem Besuch im Heim einen jungen Mann aus Eritrea kennengelernt, der ein ähnliches Schicksal hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

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