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Eine aktuelle Studie befragte Erwachsene, welche Bücher sie als vorlesewürdig für ihre Kinder erachten. Nachdem Jörg Steinleitner die Ergebnisse kennt, findet er: Das ist ein Fall für die Kripo.

Kannibalen und Kidnapper: Jörg Steinleitner kommentiert, was die Deutschen ihren Kindern so vorlesen

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Da wäre mir beinahe die Schreibmaschine vom Tisch gerutscht

Jüngst las ich von einer gruseligen Leseumfrage im sonst gar nicht gruseligen Magazin Chrismon. Die Zeitschrift präsentierte eine Studie, in deren Rahmen Menschen gefragt wurden, welche Bücher und Geschichten Eltern ihren Kindern vorlesen sollten. Als ich die “Gewinner” sah, ist mir beinahe die Schreibmaschine vom Tisch gerutscht. Platz 1 ging an “Märchen”. 89 Prozent der Befragten halten sie für eine vorlesenswerte Lektüre für Kinder. Zur Erinnerung: Märchen, das sind diese Geschichten, die erst kürzlich (etwa vor 200 Jahren) von den Brüdern Grimm und anderen Literaturfreunden gesammelt wurden.

Sind Geschichten von Kannibalen und Kidnappern wirklich kindertauglich?

In Märchen werden gerne mal Kinder von ihren Eltern verstoßen, woraufhin sie dann in einem dunklen Wald in die Hände einer Kidnapperin fallen, die auf Menschenfleisch steht und von daher an eine andere (leider wahre) Geschichte erinnert: die des “Kannibalen von Rothenburg”. Die Opfer in genanntem Märchen werden von der Kidnapperin in einem Verlies gehalten, dessen Schrecklichkeit locker an die härtesten Fälle der vergangenen Jahre – Kampusch, Fritzl, Jaycee Lee D. – heranreicht. Höhepunkt dieses vielleicht berühmtesten Märchens der deutschen Erzähltradition ist dann der kaltblütige Mord, den die Kinder begehen, um ihre Peinigerin, die Kannibalin, loszuwerden.

Sämtliche Eltern würden im Knast landen und ihre Kinder im Krankenhaus

Platz 3 in der Rangliste der Bücher, die Deutsche laut der zitierten Umfrage als vorlesenswert empfinden, belegt der “Struwwelpeter”. Auch dieser Buchtipp ist brandaktuell, die Geschichtensammlung erschien 1844. Sollten die 62 Prozent der Erwachsenen, die den “Struwwelpeter” als vorlesewürdig erachten, ihre Kinder nach den Geschichten in diesem Buch behandeln, dann müssten wir sofort alle Jugendämter mit sämtlichen zur Verfügung stehenden SEKs kurzschließen, um die Kinder aus den Fängen ihrer “Erzieher” befreien. Die meisten der in den Struwwelpeter-Geschichten vorkommenden Erwachsenen würden im Knast landen und die Kinder im Krankenhaus oder auf dem Friedhof. Zur Erinnerung: Im “Struwwelpeter” werden Kinder verbrannt, es werden ihnen die Finger abgeschnitten und sie werden dem Hungertod preisgegeben.

Da kann es für uns, die wir Bücher lieben, nur ein Fazit geben

Das sind also die Geschichten, von denen Deutschland angeblich findet, dass man sie Kindern vorlesen sollte. Unter diesen Umständen muss man sich fast wünschen, dass von diesen ahnungslosen Befragten möglichst wenige mit Kindern in Berührung kommen. Für uns alle, die wir Bücher lieben, bedeutet die Studie, dass wir noch sehr, sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten haben. Liebe Lesefans, lasst uns ausströmen und den Menschen von guten Büchern erzählen. Jeden Tag erscheint ein neues, tolles, witziges, mitreißendes, spannendes, berührendes Buch, das sich mehr lohnt vorzulesen als unsere uralten und oftmals urgrausamen Märchen und der furchterregende “Struwwelpeter”. Die sind eigentlich nur (wenn überhaupt) für Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker interessant.

P.S.: Die von mir sehr geschätzte Buchhändlerin Vera Schaub von der Buchhandlung Gattner in Murnau hat mir drei Bücher empfohlen, die sie super findet (siehe unten). Es sind nicht nur welche zum Vorlesen, sondern auch zum Verschenken für größere Kinder.

P.P.S.: Als weiterer, absolut heißer Buchtipp gilt auch das jüngst erschienene Werk des unbekannten Kolumnisten Jörg Steinleitner. Das meisterlich erzählte Dorfabenteuer, das von Bienen handelt und sich vornehmlich an Grundschüler richtet, heißt “Juni und der Honigdieb” und genießt unter Lesemäusen und -ratten den Ruf, sowohl lustig als auch spannend zu sein, obwohl darin keinerlei Straftaten an Kindern begangen werden.

P.P.P.S.: Fairerweise muss man sagen, dass die Befragten der genannten Studie auf Platz 2 “Pippi Langstrumpf” gewählt haben – mit immerhin 82 Prozent. An dieser fabelhaften Buchempfehlung kann man nun wirklich nichts aussetzen. Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf ist grandios. Im schwedischen Original heißt sie übrigens Pippilotta Viktualia Rullgardina Krusmynta Efraimsdotter Långstrump. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

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<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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