Vor sechs Jahren ergriff Chris die Flucht. Jetzt muss sie zurück
Als ihr Großvater im Sterben liegt, steht Chris vor einer schwierigen Aufgabe: Schließlich hat die Mittvierzigerin vor sechs Jahren die Heimat bewusst und sogar ein wenig fluchtartig verlassen. Dies hatte mit ihrer Wohngemeinschaft und deren Kinderwünschen zu tun. Doch nun muss sie zurück in das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist.
Der Wunsch, zu viert ein Kind großzuziehen, überforderte sie
Chris, die als Technikerin beim Theater arbeitet, hatte damals eigentlich ein glückliches Leben geführt. Ihre WG mit Doro und Antonia hatte funktioniert. Doch dann kam bei den Mitbewohnerinnen der Wunsch auf, ein Kind zu bekommen und dieses gemeinsam großzuziehen, zusammen mit Rafa aus der Wohnung unter ihnen. Chris hatte der Gedanke an diese Verantwortung vollkommen überfordert. Der einzige Ausweg, den sie sah, war es, Hals über Kopf abzuhauen.
Man sagt ihr, sie sei dem Großvater ähnlich, dabei ist er ein Unsympath
Nun kehrt Chris mit allerlei gemischten Gefühlen und Gedanken zurück. Ihr Großvater ist ein aufbrausender und schwieriger Mensch. In Chris‘ Kopf sind sein Geschrei und das toxische Umfeld, in dem sie aufwuchs, noch sehr präsent. Und auch die Tatsache, dass ihr immer wieder gesagt wurde, wie ähnlich sie diesem unsympathischen Menschen sei, bereitet ihr Unbehagen. Doch als sie vor Ort ist, stirbt der Großvater bald und Chris beschließt nach seinem Tod, erst einmal zu bleiben. Sie möchte das Haus in Ordnung bringen – und stellt beim Räumen und Renovieren fest, dass sie ganz nebenbei auch ein wenig ihr eigenes Leben in Ordnung bringt.
Chris fühlt sich frei, weil sie kein Kind mehr bekommen kann
Zudem knüpft sie an die Freundschaft zu ihren einstigen WG-Genossen an: Doro, Antonia und Rafa haben tatsächlich ihren Kinderwunsch verwirklicht und ziehen mittlerweile zu dritt die fünfjährige Vivien auf. Und Chris, nun in den Wechseljahren und damit von den sie belastenden Gedanken über das Muttersein befreit, spürt, dass sie die Kinderthematik weit weniger beschäftigt als dies vor Jahren noch der Fall war. Sie fühlt sich frei, weil sie kein Kind mehr bekommen kann. Und so wird aus einem eigentlich eher kurz geplanten Aufenthalt mehr.
Was bedeutet Familie? Müssen wir alle Kinder bekommen? Sind Wechseljahre auch eine Befreiung?
Ela Meyer, die wir bereits von ihrem literarischen Debüt „Es war schon immer ziemlich kalt“ her als Schriftstellerin kennen, die es versteht, nicht ganz einfache Themen mit beeindruckender Leichtigkeit zu erzählen, kreist auch dieses Mal wieder um spannende Fragen: Was bedeutet unsere familiäre Prägung für unser Leben? Warum kann sie so belastend sein? Müssen wir alle Kinder bekommen? Was bedeutet der Verlust der Großeltern? Können die vermeintlich negativen Wechseljahre nicht auch Chancen für eine Frau sein? Und: Was ist besser – gehen oder bleiben?
Ela Meyers „Furchen und Dellen“ erzählt die Geschichte eines Neustarts
Für Chris gelingt ein Neustart, den sie sich so nicht erhofft hätte: Sie findet immer mehr in ihr altes Leben hinein. Sie lernt ihre alten Freunde auf neue Weise kennen. Sie genießt es, einzelne alte Muster wiederzubeleben. Und weil das Kinderkriegen nicht mehr geht, fällt ihr mit einem Mal der Umgang mit Kindern leichter. Auch empfindet es Chris als erleichternd, dass sie mit Mitte vierzig von einigen gesellschaftlichen Zuschreibungen gegenüber Frauen befreit ist.
Eine klare, offene Sprache und authentische Charakterzeichnungen
All dies packt Ela Meyer geschickt in eine Handlung, der man gerne folgt, weil sie unterhält. Zudem verwendet die Autorin eine klare, offene Sprache und liefert authentische Charakterzeichnungen. Man merkt den Figuren an, dass sie einen Hintergrund haben und ein eigenes Leben, von dem wir vielleicht gar nichts erfahren, das wir aber mit jeder Zeile, die wir lesen, spüren. Das macht Ela Meyer wirklich überzeugend. Und auch ihre Dialoge sind lebensnah und glaubwürdig.
Marion Elskis fängt die Verletzlichkeit der Hauptfigur sehr gut ein
So ist „Furchen und Dellen“ ein geschmeidiger Roman mit literarischem und thematischem Anspruch und hohem Identifikationspotential – übrigens nicht nur für Frauen. Denn diese Themen gehen uns alle an. Gesprochen von Marion Elskis ist auch das Hörbuch hörenswert. Diese tolle Sprecherin schafft es immer wieder, einen in die Geschichte hineinzusaugen. Diese leichte Verletzlichkeit, die sich durch die Zeilen des Buches zieht, fängt sie perfekt ein und lässt die Protagonistin Chris dabei stark aussehen.