Frau Bluhm liest: „Das rote Adressbuch“ 5 von 5 Blu(h)men
Die Heldin von Sofia Lundbergs „Das rote Adressbuch“ ist 98 Jahre alt
Stolze 98 Jahre alt ist die weitgereiste Doris Alm aus Sofia Lundbergs „Das rote Adressbuch“, als sie allein in ihrer Wohnung stürzt und ins Krankenhaus kommt. Für Doris ist ganz klar, dass sich ihr Leben dem Ende zuneigt. Deshalb hat sie schon vor einiger Zeit begonnen, ihr turbulentes Leben aufzuschreiben – für ihre Großnichte Jenny. Als Jenny nun aus ihrer Heimat USA ans Krankenbett der Tante in Stockholm kommt, nimmt sie den verzweifelten Kampf um Doris‘ Leben auf und beginnt parallel dazu, anhand der Aufzeichnungen der Tante, selbiges immer besser zu verstehen.
Es ist ein erstaunliches Leben, in das uns die betagte Doris eintauchen lässt
Das rote Adressbuch hat Doris im Alter von zehn Jahren von ihrem Vater geschenkt bekommen. Es wird sie ihr ganzes Leben begleiten und in diesem Adressbuch wird Doris alle Menschen festhalten, die ihr im Laufe ihrer Reise der Zeit begegnen. Einige sind wichtig, andere eher Randgestalten, aber heute, wenn Doris als 98-Jährige auf ihr kleines Büchlein blickt, gilt für fast jeden Namen, der darin notiert ist, das Gleiche: Der Träger ist tot, sein Name ausgestrichen. Gemeinsam mit Doris und ihrer Nichte Jenny reisen wir als Leser durch ein langes und bewegtes Leben, das seine Heldin vom Schweden der 1920er Jahre nach Paris, über New York und England schließlich wieder in die Heimat zurückführt. Wir treffen verschiedene Personen, die im roten Adressbuch verewigt wurden und erleben, wie Doris durch diese Personen geprägt wurde und wie deren Leben sich durch Doris’ Anwesenheit verändert hat.
Sofia Lundberg schildert sehr gut die Gefühle der beiden Frauen
Es ist eine spannende und teils tragische Reise, die beginnt, als die erst 13 Jahre alte Doris zum ersten Mal von zuhause wegmuss. Sofia Lundberg gelingt es sehr gut, die Gedanken und Gefühle der beiden Frauen zu schildern und aus der Perspektive eines alten und eines jungen Menschen an das Thema “Sterblichkeit” heranzuführen. Die Autorin, die für den Roman von ihrer eigenen Tante Doris inspiriert wurde, schafft dabei einen einfühlsamen Spagat aus herzerwärmender, liebevoller Schreibart und spannender Handlung. Ihre eigene Tante Doris hatte zwar kein so bewegtes Leben wie die Titelfigur von Sofia Lundbergs Debütroman, aber dennoch ist es ihr hervorragend gelungen, gerade so viel Gefühl in die Handlung zu legen, dass man sie für eine reale Geschichte hält. Sie schildert das Innenleben beider Frauen so authentisch und empathisch, dass man unweigerlich beginnt, sich mit beiden Frauen zu identifizieren und um ihr Schicksal zu bangen. Eine großartige Leistung, die mich des Öfteren beim Lesen zu Tränen rührte.
Wir sollten vielleicht wieder mehr auf unsere älteren Mitmenschen hören
Mir ist auch bewusst geworden, dass wir in unserer heutigen Gesellschaft viel zu sehr auf Fortschritt und Weiterkommen bedacht sind; dass wir viel zu selten innehalten, um uns mit der Vergangenheit zu befassen; dass wir die Lebenserfahrung älterer Mitmenschen, und vor allem jene der eigenen Familienmitglieder, oftmals gar nicht genug schätzen; und dass wir aufgehört haben, wichtige Fragen zu stellen. Ich glaube, Sofia Lundberg hat mit „Das rote Adressbuch“ ein wenig dazu beigetragen, dass die ein oder andere Oma, Tante, oder Urgroßmutter vielleicht mal wieder ein wenig öfter angerufen wird.
„Das rote Adressbuch“ ist eine Lektüre für Mütter, Töchter und Großmütter
Jedenfalls hat sie mit ihrem Debüt ein Buch für Mütter, Töchter und Großmütter geschrieben. Ein Buch über die Vergänglichkeit, über das Loslassen und über das Ende eines Lebenswegs. Und genau so ist es auch ein Buch über Chancen, Mut und Liebe. Ich habe mich sehr wohlgefühlt mit Doris und Jenny, und ich bin mir sicher, dass es vielen Menschen ebenso ergehen wird. Deswegen bekommt Sofia Lundbergs „Das rote Adressbuch“ von mir 5 Blu(h)men.