
Ein bewegendes Buch über eine Frau, die beinahe vergessen war
Was bleibt von einem Menschen, wenn niemand mehr von ihm erzählt? Wenn nur ein paar alte Fotos, ein Verlobungsring und eine Handvoll Geschichten überdauern? Henning Sußebach stellt sich in seinem Werk „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ dieser Frage mit persönlicher Konsequenz – und schreibt ein ungewöhnlich sensibles, literarisch bewegendes Buch über seine Urgroßmutter Anna Kalthoff. Eine Frau, deren Leben fast gänzlich im Nebel der Geschichte verschwunden war – und die doch so viel zu erzählen hat.
Anna widersetzt sich dem Zölibat und verliebt sich in einen jüngeren Mann
Im Jahr 1887 tritt Anna ihre Stelle als junge Lehrerin im sauerländischen Dorf Cobbenrode an. Eine Frau in einer Männerwelt, gefangen in rigiden gesellschaftlichen Erwartungen. Doch Anna fügt sich nicht. Sie widersetzt sich dem Lehrerinnenzölibat, verliebt sich in den jüngeren Clemens, heiratet, wird früh verwitwet – und beginnt ihr Leben neu. Sie übernimmt die Poststelle, führt ein Wirtshaus, zieht ihren Sohn alleine groß. Später heiratet sie erneut – einen Mann, der fast 20 Jahre jünger ist – und bekommt mit 45 noch eine Tochter. All das geschieht in einer Zeit, in der Frauen oft kaum mehr waren als „Angehörige“ – rechtlich wie gesellschaftlich. Anna entscheidet selbst, wie sie leben will. Und dieser Wille hinterlässt Spuren – im Leben ihres Urenkels, der ihr jetzt ein Denkmal setzt.
„Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ entfaltet eine besondere Kraft
Henning Sußebach erzählt nicht nur das Leben seiner Vorfahrin, er reflektiert zugleich über das Erinnern selbst. Er schreibt tastend, vorsichtig, oft im Konjunktiv, nie übergriffig. Der Autor macht sich bewusst: Was wir glauben zu wissen, ist oft Konstruktion – gespeist aus Erzählungen, Andeutungen, historischen Dokumenten und viel Vorstellungskraft. Doch gerade in dieser Mischung entfaltet sein Text seine besondere Kraft. Er zeigt, wie viel Tiefe in einem scheinbar gewöhnlichen Leben stecken kann – wenn man genau hinschaut.
Henning Sußebach erzählt leise, eindringlich und poetisch
Formal bewegt sich das Buch zwischen biografischer Skizze, erzählender Reportage und literarischer Imagination. Es ist zugleich leise und eindringlich, poetisch und präzise, empathisch und doch distanziert genug, um nicht in Sentimentalität zu verfallen. Anna wird nicht verklärt. Ihre Entscheidungen, ihr Mut, ihre Brüche – sie alle bekommen Raum, ohne dass daraus ein plattes Heldinnennarrativ entsteht. Henning Sußebach nimmt sie ernst – als Mensch, als Frau, als Teil unserer Geschichte.
Ein Buch, das daran erinnert, dass es in jeder Familie eine Anna geben kann
Henning Sußebachs „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ ist ein Buch, das man nicht nur liest, sondern spürt. Es erzählt nicht von Revolutionen, sondern von kleinen Ungehorsamkeiten, nicht von Berühmtheit, sondern von Bedeutung. Und es erinnert uns daran, dass es in jeder Familie eine Anna geben kann – jemanden, der gelebt hat, bevor wir kamen. Jemanden, dem wir viel verdanken, auch wenn wir seinen Namen kaum noch kennen. Es ist ein stilles Meisterwerk über Erinnerung, Frauenleben, Mut und das Recht, seine Geschichte selbst zu schreiben.