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Eine Horrormeldung erschüttert die heile Welt der Buchliebhaber

70 Zentimeter sind doch Pipifax

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Sicherlich haben auch Sie die Horrornachricht vernommen: Die Mitarbeiter des Erzbistums München und Freising müssen demnächst auf Bücher verzichten. Die Buchregalmeter pro Mitarbeiter sollen auf 70 Zentimeter schrumpfen. Das neue Haus, in das die Verwaltung einzieht, wird nämlich definitiv bescheidener als der Bischofssitz von Limburg: keine frei stehenden Badewannen, keine millionenteuren Kunstwerke und nur noch ganz wenige Bücher pro Bistumsnase.

Das ist natürlich schrecklich. 70 Zentimeter Buch bedeuten Askese, Entbehrung, geistiger Bärenhunger, Phantasie-Diät. Man fühlt sich erinnert an Jesus‘ 40 Tage in der Wüste. Fastenzeit.

Aber – 70 Zentimeter Buch – wieviel ist das überhaupt?

Ich habe für Sie den Regalcheck gemacht und nachgemessen: Meine längste Gesamtausgabe ist die der Werke Bert Brechts. Sie allein misst 41 Zentimeter. Weniger Platz besetzen in meiner Bibliothek die Werke von Thomas Mann (20 Zentimeter), weil ich von dem einfach nicht so viel habe, und Günter Grass (22 Zentimeter). Knapp dahinter liegt der von mir sehr verehrte Kurt Tucholsky mit 19 Zentimetern. Bei diesen Zahlen frage ich mich: Wie bitte soll ein normaler Buchliebhaber mit 70 Zentimetern Buchregal auskommen, ohne von Schwächeanfällen heimgesucht zu werden?

Sie könnten nun vorbringen, dass ich bislang nur von alten Schinken sprach. Aber meinetwegen – nehmen Sie die Gegenwartsliteratur: Steffen Kopetzkys fabelhafter Roman „Risiko“ über eine Geheimexpedition des Deutschen Reichs an den Hindukusch, verlangt ja schon nach 5,5 Zentimetern. Jonas Jonassons höchst unterhaltsamer „Hundertjähriger, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ fordert vehement nach 4 Zentimetern Regal – wohlgemerkt nur als Taschenbuch. Oder Joël Dickers mitreißendes Werk „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ will mindestens 5,5 Zentimeter. Allein meine fünf Anne-Loop-Bände lechzen nach 11,5 Zentimetern Stand- und Liegefläche. Paula Hawkins „Girl on the train“, der die Bücherwelt derzeit stimuliert, weil er mit Wendungen aufwartet, die man nicht auf der Platte hatte, fläzt sich auf 4 Regal-Zentimetern und Helen Walshs ein bisschen sandige, ein bisschen verschwitzte, ein bisschen erotische Story „Ein mallorquinischer Sommer“ stöhnt nach 2,7 Zentimetern. Jeannette Walls „Schloss aus Glas“ nimmt sich vergleichsweise dünn aus – mit etwa 2,7 Zentimetern, ist dafür aber eines der besten Bücher, die ich in den vergangenen Jahren zu mir genommen habe.

Natürlich könnten schlaue Leser bei 70 Zentimetern auf die Idee kommen, nur noch kurzes Zeugs zu lesen. Was kurz ist, muss nicht schlecht sein – im Gegenteil: Der frisch erwählte Georg Büchner-Preisträger Rainald Goetz zum Beispiel (das ist der mit der Rasierklinge beim Bachmann-Wettbewerb vor gefühlten 100 Jahren) hat in seinem ganzen Leben nie ein Buch verfasst, das mehr als 3 Zentimeter Regal beansprucht. Aber liegt wirklich in der Beschränkung nur die Würze? Ich jedenfalls rufe Sie auf zu einer Petition. Wir brauchen mehr Buch für die armen Bistumsmitarbeiter von München und Freising: Lieber Bischof Marx, lass die Menschen lesen! Lieber Gott, lass Regalmeter vom Himmel fallen. 70 Zentimeter Buch liest ein Buchfeinschmecker doch in einer Woche. Und was sollen die Verwaltungsangestellten dann mit dem Rest der Zeit anfangen? Kirchensteuerbescheide ausfüllen? Keine gute Idee.

P.S.: Der Duden definiert „Pipifax“ als überflüssiges, törichtes Zeug, Unsinn. Und nennt herrliche Synonyme wie Firlefanz, Bockmist, Fickfackerei und Quark. Guten Appetit!

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<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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