Frau Bluhm liest „Wer Strafe verdient“: 5 von 5 Blu(h)men
Dieses Mal geht es um Lynleys & Havers’ komplette berufliche Existenz
Mit ihren beiden Figuren Thomas Lynley und Sergeant Barbara Havers hat sich Crime-Queen Elizabeth George binnen zwanzig Bänden in unsere Herzen geschrieben. Mit „Wer Strafe verdient“ konfrontiert die Jubilarin – ihr 70. Geburtstag fällt auf den 26. Februar 2019 – den aristokratischen Inspector und die garantiert nicht adelige Barbara Havers mit einem Fall, der es in sich hat. Denn dieses Mal geht es nicht nur darum ein Verbrechen aufzuklären, vielmehr steht die komplette berufliche Existenz von Lynley & Havers auf dem Spiel.
Ein anscheinend pädophiler Diakon hat sich aufgehängt
Zunächst lässt sich der Fall wie kriminalistische Routine an: In dem englischen Städtchen Ludlow erdrosselt sich ein Diakon, der aufgrund seiner angeblichen Pädophilie in Untersuchungshaft sitzt, mit seiner eigenen Stola. Tragisch, vermeidbar, aber dennoch zunächst nicht mehr als ein Unglücksfall. Doch der Vater des Geistlichen glaubt nicht an einem Selbstmord und bedient sich seiner guten Beziehungen, um Scotland Yard in den Fall einzuschalten. Lynleys und Havers Vorgesetzte Isabelle Ardery wird von höchster Stelle angewiesen, Licht ins Dunkel zu bringen. Und ausgerechnet Barbara Havers, die nicht gerade für ihr Feingefühl bekannt ist, soll die Chefin begleiten.
Zwischen Barbara Havers und ihrer Chefin Ardery sprüht der Hass
Von Anfang an ist die Sache klar: Ardery, die immer schon eine Möglichkeit suchte, die ihr verhasste Barbara los zu werden, wittert ihre Chance und stellt Havers auf jede nur erdenkliche Probe. Doch Havers wäre nicht Havers, wenn sie nicht trotz eindeutiger Dienstanweisungen einen Blick über den Tellerrand riskieren würde. Dank ihrer Hartnäckigkeit und ihres Spürsinns findet sie heraus, dass sich in dem Fall des verstorbenen Diakons mehr verbirgt, als die zuständigen Beamten und Ardery zugeben wollen.
Was Elizabeth Georges große Kunst ist? Versuch einer Erklärung
Wie eingangs erwähnt, ist dies der zwanzigste Band der Reihe. Ich habe alle Teile begeistert gelesen und auch „Wer Strafe verdient“ bildet dabei keine Ausnahme. Obwohl von Jahr zu Jahr und von Roman zu Roman jeder weitere Band länger und dicker wurde, kam ich kein einziges Mal auf den Gedanken, dass Elizabeth George sich in ihrer Geschichte verloren haben könnte. Bei über 800 Seiten, auf denen es weder Blutvergießen, noch grandiose Liebesgeschichten oder weltweite Verschwörungen gibt, sollte man mit etwas mehr Langatmigkeit rechnen. Weit gefehlt, denn Elizabeth George schafft etwas, was ich bei kaum einer anderen Autor*in jemals so intensiv beobachtet habe: Sie macht den Alltag und die Realität zu ihrer Geschichte. Sie nimmt sich Zeit, ihre Protagonisten zu entwickeln und lässt sie dann für sich sprechen. So werden banale Verhörsituationen und die alltägliche Recherche der Polizisten zum aufregenden Lesevergnügen. Elizabeth George spinnt die Fäden ihrer Figuren, deren Motivationen und Biografien von Seite zu Seite dichter und setzt ihre Ermittler dann mitten hinein in das entstandene Netz. Immer wieder bin ich fasziniert, wie sie es schafft, mehrere Geschichten parallel laufen zu lassen, die dann irgendwann im großen Finale kulminieren.
Jede kleine Nebenfigur bekommt eine ausgefeilte Persönlichkeit
Elizabeth Georges Talent der Personendarstellung der auftauchenden Nebenfiguren und die Weiterentwicklung ihrer beiden Hauptprotagonisten Lynley und Havers halten sich dabei die Waage. Jede noch so kleine Nebenfigur wird von ihr mit ausführlichem Background und psychologisch durchdachter Persönlichkeit ausgestattet. Diese Autorin überlässt tatsächlich nichts dem Zufall. Doch was ganz leicht in einer überkonstruierten Darstellung enden könnte, erreicht genau das Gegenteil: Elizabeth Georges Figuren erscheinen uns als Leser*innen lebensnah und authentisch, fast lebendig, als würden sie jederzeit aus ihrem Status der Zweidimensionalität erwachen und in Fleisch und Blut vor uns stehen.
Ganz ehrlich: Ich bin dieser Krimiserie komplett verfallen
Natürlich kann kein Mensch so lange mit einer Reihe verbringen, ohne ihr komplett verfallen zu sein. Deshalb gestehe ich ganz offen: Ich liebe jedes einzelne Buch von Elizabeth George. Über all die Jahre hinweg habe ich mit Spannung verfolgt, wie sich die Grundgeschichte um die doch so ungleichen Charaktere Thomas Lynley und Barbara Havers entwickelt. Im Laufe der Zeit wurde aus den beiden ein untrennbares Team, das sich gegenseitig fordert und ergänzt. Besonders deutlich wird dies in „Wer Strafe verdient“ durch die von Elizabeth George langsam, über mehrere Bände hinweg aufgebaute Antagonistin Isabelle Ardery.
Barbara Havers muss schlimme Fehltritte ihrer Chefin ertragen
Die zwischen den beiden Frauen herrschende Abneigung liegt von Anfang an auf der Hand. In diesem 20. Jubiläumsband erreicht sie jedoch ihren Zenit. Gerade hier zahlt sich aber die Art und Weise aus, wie Elizabeth George ihre Charaktere zeichnet: Bei ihr gibt es keine Grenzen zwischen Gut und Böse. Selbst inmitten eines massiven Konflikts handeln alle Beteiligten ihrer Persönlichkeit entsprechend und glaubwürdig. Wer wie ich, ein riesengroßer Barbara-Havers-Fan ist, kann gar nicht anders, als Isabelle Ardery zu hassen. Es entspricht aber eben nicht Barbaras Naturell, die Chefin in die Pfanne zu hauen, egal wie grässlich sie sie behandelt, oder welche Fehltritte die Chefin sich leistet (und es sind einige, vertraut mir!).
„Wer Strafe verdient“ ist ein menschlicher und sehr spannender Krimi
Genau wie Barbara in dieser Situation (frustrierend) authentisch handelt, so stellt sich auch Lynley der Situation. Selbst Isabelle Ardery handelt nur innerhalb ihrer persönlichen Grenzen. Da man die Figuren im Laufe des Krimis so genau kennenlernt, kann man sich sehr gut in diese literarische Welt einfühlen, in der es kein Schwarz-Weiß-Denken gibt. Das Ergebnis ist ein Roman, der gleichermaßen berührend menschlich wie auch psychologisch spannend ist.
Vielen Dank, Elizabeth George – und: Alles Gute zum Geburtstag!
Wenn ich überlege, dass es dieser Frau gelingt, das Niveau ihrer Bücher über mehr als fünfundzwanzig Jahre nicht nur zu halten, sondern sogar noch zu steigern und immer wieder der modernen Zeit anzupassen, empfinde ich Hochachtung. Gerade die Figur von Barbara Havers, die mit den Jahren immer facettenreicher und menschlicher wurde, ist dafür ein leuchtendes Beispiel. Ich freue mich mit dem Aufschlagen eines jeden ihrer Bücher wieder etwas Neues von ihr zu lesen und gleichzeitig meine alte Freundin Barbara wiederzusehen. Vielen Dank, Elizabeth George, für dieses Lesevergnügen – und: Happy Birthday!