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Über Ärzte wird viel gesprochen und das nicht immer positiv. Aber sind sie wirklich überbezahlt und nicht sehr fleißig? Jörg Steinleitner über einen Abend mit Lebensrettern, inklusive einer Prise Horror.

Unser Kolumnist verbrachte einen interessanten Fußballabend mit Ärzten und Krankenpflegern

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Titelbild Kolumne Steinleitners Woche Ärzte

© S_L shutterstock-ID:439452370

Es gibt sicherlich Ärzte, die faule Säcke sind

Komisch ist das mit den Ärzten: Einerseits steht der Beruf bei Umfragen meist an der Spitze der Prestige-Ranglisten, andererseits wird vielen Ärzten unterstellt, sie würden wenig arbeiten für ihr vieles Geld. Nun, es gibt sicherlich Ärzte, die faule Säcke sind. Aber gibt es nicht auch faule Manager, faule Bauarbeiter, faule Professoren und faule Sachbearbeiter?

Vermutlich brauchen sie auch nach Feierabend Patienten

Ich selbst treffe mich seit einigen Jahren regelmäßig mit Ärzten und Krankenpflegern zum Fußballschauen. Wie ich zu dieser Ehre gekommen bin, weiß ich nicht genau. Vielleicht können Menschen, deren Beruf es ist, andere zu heilen, einfach auch am Feierabend nicht ganz auf Patienten verzichten. Und ich bin natürlich ein schwieriger Fall.

Es ist interessant, wie Krankenhausleute den Körper sehen

Für mich sind diese Abende mit den Krankenhausleuten inspirierend. Dies nicht nur, weil alle außer mir Bayern-Fans sind, nein, es ist einfach interessant zu hören, wie Fachleute für Lebensrettung – Spezialgebiet Unfallopfer – über Menschen und Körperteile denken.

Der Körper ist für Ärzte keineswegs geheimnisvoll oder gar ein Wunder

Wenn ich es richtig deute, sehen meine Freunde den Körper als eine Art Gerät, das aus vielen härteren und weicheren Teilen sowie verschieden farbigen Säften zusammengesetzt ist. Diese Teile sind auf mechanische, kabel-, schlauch- und andersartige Weise miteinander verbunden und meine Freunde kennen jedes einzelne davon. Alles, was in dieser Körpermaschine passiert, ist für sie technisch, physikalisch, chemisch, biologisch oder sonst irgendwie logisch erklärbar und keineswegs geheimnisvoll oder gar ein Wunder.

Zu denken, wackle mit dem Zeh und der wackelt – ist das kein Wunder?

Ich aber frage mich: Ist dieses Körpergerät, in dem wir durch die Welt schlendern, wirklich kein Wunder? Ich meine, ist es nicht unglaublich, dass ich zum Beispiel just in diesem Moment denken kann, wackle mit dem Zeh – und dann wackelt tatsächlich mein Zeh! Und dazu noch circa einen Meter siebzig von dem Kopf entfernt, in dem ich das denke? Ohne Bluetooth oder G5-Netz! Ich halte dies schon für ein ziemliches Wunder (zumal ich noch Socken an und eine Mütze auf habe). Lasse ich sie an derlei Überlegungen teilhaben, verdrehen meine Ärztefreunde die Augen und – dies ist eine Vermutung – überlegen, welches Medikament man mir geben könnte. In ihren naturwissenschaftlichen Kopfgeräten ist für Zehen-Mystik kein Platz. Aber fast immer erlebe etwas mit ihnen, kürzlich zum Beispiel:

Partner von Krankenhausmenschen müssen hartgesotten sein

An einem Abend kam die Frau eines meiner Krankenhausfreunde nach Hause – sie arbeitet selbstverständlich auch im Krankenhaus; die meisten meiner Arztfreunde sind mit Frauen liiert, die selbst wiederum irgendetwas mit der Instandsetzung von Körpern zu tun haben. Dies leuchtet mir ein, denn man muss schon hart gesotten sein, um die Berichte vom Arbeitstag eines Krankenhausmenschen am Abend zu verkraften, ohne dass einem das Abendessen wieder aus dem Mund fällt oder – noch schlimmer: steckenbleibt. Ich würde wegen der Horrorstories ständig ohnmächtig werden, müsste ich mit einem Arzt oder Krankenpfleger zusammenleben. Wobei das nun wieder nicht so schlimm wäre, da ja gleich ein Retter mit am Tisch sitzt, der dann mit der Wiederbelebung starten kann. Der Lebensgefährte meiner Mutter lebt nur noch, weil er seinen Herzinfarkt bekam, als er mit drei Ärzten Tennis spielte. Es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit, mit Ärzten fernzusehen. Aber wir waren bei der Gattin:

Der Frühling ist die Jahreszeit der Finger, sagte die Krankenschwester

Die Gattin kam also von ihrem blutigen Handwerk nach Hause und die vor dem Fußballfernseher versammelte Krankenhaus-Mannschaft fragte fröhlich: „Und, wie war dein Dienst?“
Ich dachte mir in diesem Moment: Was für eine Frage! Kann ja nur schlimm gewesen sein. Ich meine, sie arbeitet in einem Unfallkrankenhaus! Das ist kein Streichelzoo!
Die Krankenschwester aber antwortete: „Ach, alles harmlos.“ Tatsächlich sah sie entspannt und blühend aus. Aber dann schob sie noch ein Sätzchen hinterher: „Mei, es ist jetzt halt wieder Frühling.“
„Ach“, stöhnte hierauf gleich der Ehemann, „geht das jetzt mit den Fingern wieder los?“ Die Tonalität der Frage entsprach einem Satz wie: „Ach, kann der Kovac nicht mal den Hummels rausnehmen und einen schnelleren Abwehrspieler reinstellen?“
„Ja, ja“, sagte sie.

Frühling ist Kreissägenzeit: Hände, Finger, Fingerkuppen, das ist Standard

Alle nickten wissend. Ich aber war verwirrt. Die Finger? Was ist im Frühling mit den Fingern? Ich warf einen hastigen Blick auf meine eigenen. Dann tastete ich mich vorsichtig nach vorn: „Wieso, also, ähm – was ist denn mit den Fingern im Frühling?“
„Ach“, seufzte die Krankenschwester, „Frühling ist Kreissägenzeit. Da machen sie alle Holz und dann sägen sie sich die Finger ab.“
Ich schluckte. „Passiert das oft?“
„Praktisch täglich“, meinte ihr Gatte, der Arzt, fatalistisch. „Hände, Finger, halbe Finger. Das ist Standard im Frühling.“ Er gähnte, der FC Bayern spielte gerade nicht so gut.

Vor meinem inneren Auge entstand ein Blutbad, also Horror

 Frau nickte lächelnd: „Aber heute war es nicht schlimm. Es war nur einer und bei dem waren es nur drei.“
„Wie, nur einer, nur drei?“, entfuhr es mir. Ich zitterte ein wenig.
„Na ja, ein Mann, drei Finger. Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger.“
Vor meinem inneren Auge entstand ein Blutbad. Splatter-Movie. Horror. Überall abgesägte Finger. Schreiende Kreissägen und Menschen.
Die Krankenschwester sagte dann noch etwas: „Aber schräg war, dass der selber mit dem Auto gekommen ist und die Finger dabeihatte.“

Der Patient kam mit dem Auto und brachte seine Finger auf Eis

Mich schwindelte leicht, der Fernsehbildschirm verschwamm zu einer grünen Suppe. Hummels war verschluckt worden, auch Neuer und Lewandowski.
„Der – Patient“, stammelte ich im Bemühen um Verständnis, „der – Patient – also – er war mit dem – Auto gekommen – und – hatte – die Finger – dabei?“ Etwas in mir musste aufstoßen.
„Ja, in einer Tüte, und sogar auf Eis. Also eigentlich echt perfekt“, meinte die blühende Gattin.

In diesem Moment überschlug sich meine Stimme

Auf Eis. Ich dachte an ein Glas Bloody Mary, aber nur kurz. Denn sie sagte: „Aber wir konnten die Finger nicht retten. Die waren total versägt, also zerfetzt, und es hat auch zu lange gedauert, bis er da war. Schade eigentlich.“
Ich fragte: „Wie, der hat jetzt drei Finger weniger, oder was – und du findest das nur ‚schade eigentlich‘? Wieso denn eigentlich? Ich meine, stell dir mal vor, du hättest drei Finger weniger, ich meine, fändest du das einfach nur ‚schade eigentlich‘?“ Ich glaube, meine Stimme überschlug sich in diesem Moment ein wenig.

Drei Finger! Das ist doch nicht nur schade ‚eigentlich‘!

Die Lebensretter starrten mich an, als wäre ich verrückt geworden. Sie warfen sich Blicke zu. Vermutlich überlegten sie, wie sie mich überwältigen konnten, um mir dann schnell eine beruhigende Spritze zu verabreichen. „Drei Finger!“, rief ich noch einmal. „Das ist doch nicht nur ‚schade eigentlich‘! Das ist eine totale, persönliche Katastrophe!“
„Jetzt fahr mal runter, Schriftsteller“, sagte nun der Hausherr bestimmt. „Hauptsache ist doch, dass der Patient lebt! Was sind denn drei Finger! Du glaubst nicht, in welchem Zustand bei uns die Leute reinkommen.“
„In welchem?“, fragte ich und bereute es sofort.

Man muss aufpassen im Leben, dachte ich mir, und hoffen

„Die kommen bei uns in der Notaufnahme an …“, sagte er. „Die sind so zerlegt …“, er ließ sich Zeit mit seinem Satz, nahm noch einen Schluck alkoholfreies Bier (das ist übrigens extrem beruhigend, sie trinken nur alkoholfreies Bier, damit sie uns alle retten können, und zwar jederzeit!). „Die kommen in einem Zustand an, da wissen wir erst einmal nicht, welches Teil wohin gehört, beziehungsweise zu wem. Da kommen Leute rein, also da liegen die Arme und Beine daneben!“
„Achso“, hüstelte ich. „Ich nehme mir dann noch ein Bier“, eilig floh ich in die Küche. Als die Flasche auf war, es war kein alkoholfreies Bier, trat ich wieder ins Wohnzimmer, hob das Getränk und sagte: „Auf euch, Männer und Frauen! Und danke, dass ihr diesen Job macht!“ Sie prosteten zurück, es wirkte ein bisschen gelangweilt, sie waren mit der Konzentration beim Spiel. Ich aber betrachtete meine Finger, klimperte mit ihnen herum – und fühlte mich wie ein Kind. Man muss aufpassen auf sich im Leben, dachte ich mir. Und wenn es mal schief gegangen ist, mit dem Aufpassen, dann muss man hoffen, dass da so ein paar Typen sind, die nicht lange fackeln, sondern einem die Finger, Arme und Beine einfach wieder drankleben. Solche Leute, die zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit sind, einen blutigen Haufen Mensch so gut es geht wieder zusammenzuflicken. Überbezahlte, faule Säcke machen so etwas eher nicht.

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<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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