4. Oktober 2017 | Kolumne: Jörg Steinleitner
„Vergangene Woche fielen sie über unsere Perserkatze her.“ Jörg Steinleitner erzählt eine so aktuelle wie brutale Geschichte aus dem Tierreich. Eine politische Fabel, die nachdenklich macht.
Sie sind wieder da. Wie sehr hatten wir gehofft, sie würden es nicht schaffen, ihr Völkchen würde nicht wieder bei uns einziehen. Aber nun – nun haben wir sie im Haus. Und wir müssen damit leben, dass sie sich nicht an die Regeln unseres Zusammenlebens halten wollen. Dass sie alle möglichen Grenzen überschreiten, aus reiner Jagdlust. Dass sie Angst und Schrecken verbreiten. Vor allem auch, dass sie nicht akzeptieren, dass unser Haus durchaus groß genug ist für ganz viele, ganz verschiedene Lebewesen. Stattdessen hetzen sie Unschuldige und scheißen alles voll. Es gibt ja Leute, die sehen das anders, aber ich finde, Marder sind keine sympathischen Tiere.
Es ist ein 200 Jahre alter Bauernhof, in dem wir wohnen. Und bislang hatten wir in der Weise gelebt, dass unsere Familie – Helena, Isabella, Elsa und Leonhard – im Wohnteil wohnte, während sich die anderen die große Tenne aufteilten. Es ging immer mehr oder weniger friedlich zu. Mäuse und Fledermäuse, Spinnen und Katzen, Wachteln und Fliegen – jeder fand sein Plätzchen. Doch das hat sich nun geändert: Die Marder, die jetzt bei uns wohnen, respektieren unsere freiheitliche Ordnung nicht. Dass sie mitbestimmen wollen, wäre ja noch in Ordnung. Aber die hetzerische Weise, in der sie das tun, gefährdet das Gleichgewicht unseres Zusammenlebens.
Vergangene Woche, nur drei Tage, nachdem sie – es war, glaube ich, zufällig der Sonntag der Bundestagswahl – bei uns eingezogen waren, fielen sie über Mimi her. Die kleine Perserkatze unserer Nachbarin. Ein paar Wochen alt. Ein wirklich süßes Tierchen. Es war Mimis erste Nacht draußen. Am nächsten Morgen war ihr Gesicht vollkommen verbissen. Der Tierarzt konnte Mimi retten. Aber die Spuren der Folter wird man ihrem Gesichtchen immer ansehen.
„Die müssen weg“, forderte mein Sohn. „Die machen alles kaputt.“
Dicke Tränen kullerten aus Elsas und Leonhards Augen, als sie Mimis Wunden sahen. „Die Marder müssen weg“, forderte mein Sohn. „Die machen alles kaputt und kacken alles voll.“
„Ja, die verschmutzen unser Haus! Die Mimi beißen! Sowas macht man doch nicht“, rief Isabella. Ich nickte nachdenklich. „Weißt du Papi, ich kann nachts gar nicht mehr schlafen. Die rumpeln so laut.“
„Aber sie sind doch nur wenige“, versuchte ich die Kinder zu beruhigen, obwohl mir das Mardervolk auch reichlich laut und grob erschien. „Wir anderen, wir Friedlichen, wir sind doch viel mehr!“
„Papi, wenn wir jetzt nichts tun, dann werden die sich aber ganz schnell vermehren!“, sagte Elsa. Ihr Gesichtsausdruck war ernst.
„Aber was sollen wir machen?“
„Abknallen“, sagte Leonhard.
„Na, na“, antwortete ich. „Das ist aber ja wohl nicht unser Stil, oder? Auch Marder haben Rechte!“
Leonhard zuckte mit den Schultern.
Elsa hatte eine Idee: „Wir selber müssen so weiterleben wie bisher, ihnen zeigen, dass wir da sind. Vielleicht ruhig auch mal rumplig sein oder einfach nur fröhlich und laut, zeigen, dass wir da sind, in der Tenne. Das mögen die, glaube ich nicht.“
„Aber wir müssen es Ihnen auch unbequem machen bei uns“, gab Leonhard zu Bedenken. Ich glaube, sonst hauen die von selbst nicht wieder ab.“
Jetzt sah Isabella mich an. „Du hast doch erzählt, dass ihr früher auch schon mal Marder im Haus hattet?“
„Das ist aber schon 25 Jahre her“, meinte ich. „Nach der Wende.“ Ich erinnerte mich noch genau an die Zeit. Damals hatte es sogar mal gebrannt. Weil ein Marder eine Stromleitung angebissen hatte; Kurzschluss – und dann Feuer. Alle Tiere mussten aus der Tenne fliehen.
„Und was habt ihr damals gemacht, um die Marder loszuwerden?“, wollte Isabella wissen.
„Hundehaare. Wir haben Hundehaare in die Tenne gelegt. Den Geruch von Hunden können Marder partout nicht ausstehen.“
„Echt wahr?“ Die Kinder sahen mich ungläubig an.
„Ja, Hundehaare, das ist die Wahrheit. Die mögen die nicht.“
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1971 im Allgäu geboren, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule in Krems/Wien.
Zur Biografie von Jörg Steinleitner
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Monokultur – Alternative für Andi
ISBN 978-3-86282-535-6
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1971 im Allgäu geboren, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule in Krems/Wien.
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