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Reden wir doch mal über das, was wirklich wichtig ist zwischen der Türkei und Deutschland

Mein türkischer Liebeskummer – Jörg Steinleitner über Erdogan, Böhmermann und die heilende Wirkung felsiger Küsten

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Es gibt nicht nur Erdogan und Böhmermann, sondern 79 Millionen Türken und 81 Millionen Deutsche. Ungefähr für jeden Türken einen deutschen Freund und für jeden Deutschen einen türkischen. Freunde lachen übereinander und sagen sich hin und wieder die Meinung. Ganz normal. Da sollten wir wieder hin.

Erdogan und Böhmermann. Mir tut das alles irgendwie leid. Die Türkei und Deutschland sind seit vielen Jahrzehnten Freunde. Wir Deutschen lieben die Türkei, weil wir dorthin gerne in den Urlaub fahren. Ich selbst war mehrmals dort. Das erste Mal – da war ich Student und frisch verlassen von meiner Freundin, schwerer Liebeskummer – bin ich hingeflogen, weil es die billigste Reise in ein warmes Land war, die es am Schalter im Münchner Flughafen in letzter Minute noch gab. Mein Freund, ich nenne ihn mal Bert, war auch dabei.

Wir sind in Antalya gelandet und dann in irgendeinen Bus gestiegen und in irgendein Kaff am Meer gefahren. Felsige Küste, türkisfarbenes Wasser, der Liebeskummer war nicht mehr ganz so schlimm. Gleich am ersten Abend haben wir in der einzigen Bar des Kaffs das halbe Dorf kennengelernt. Wir wurden ohne jede türkische Sprachkenntnis sofort integriert und redeten den ganzen Abend mit allen. An die Inhalte kann ich mich nicht erinnern – die Einheimischen luden uns auf zu viele Rakis ein.

„Sie haben uns ausgesperrt!“, riefen wir. Es war halb fünf Uhr morgens.

Bert und ich sind dann ziemlich glücklich und auf allen Vieren zu unserer Bleibe gekrochen. An der Haustür stellten wir fest, dass man uns ausgesperrt hatte. Wir machten so lange Radau bis unsere Hauswirtin verschlafen aus dem Fenster sah. „Sie haben uns ausgesperrt!“, riefen wir. Die Frau schüttelte den Kopf, kam die Treppe herunter und machte die Tür auf. Einfach so, ohne Schlüssel. Wir Idioten waren zu besoffen gewesen, um sie aufzubekommen. Es war halb fünf. Kein Wort des Vorwurfs. Die Frau lächelte uns an. Wir legten uns ins Bett.

In der Nacht stellten wir fest, dass das Zimmer genau so lang wie mein langer Freund Bert war, weshalb er mit dem Kopf am einen Ende anstieß und mit den Beinen am anderen. Schlechten Gewissens beschlossen wir umzuziehen. Als wir bezahlten, verlor die Hauswirtin kein vorwurfsvolles Wort wegen unserer nächtlichen Aktion.

Unsere neue Herberge gehörte einem älteren Türken namens Önder. Er sprach perfekt Deutsch, weil er sich in den 70er-Jahren darauf spezialisiert hatte, in Deutschland Reisebusse zu kaufen, sie gegen Bezahlung mit Hippies vollzuladen, diese nach Istanbul zu fahren, die Hippies dort aussteigen zu lassen und die Busse zu verkaufen. Während er an seiner Wasserpfeife nuckelte, erzählte uns Önder eine abenteuerliche Geschichte nach der anderen. Er war mit einer viel jüngeren, bildhübschen blonden Schwedin verheiratet. Wir waren ziemlich beeindruckt von ihm.

Fünfmal am Tag beten – das ist auch eine Art Gymnastik

Zum Beispiel erklärte uns Önder das tägliche fünfmalige Beten: Mohammed habe gesehen, dass sein Volk sich zu wenig bewegte. Also habe er ihm aufgetragen, sich fünfmal am Tag niederzuknien und zu verneigen. Gymnastik also. Außerdem habe Mohammed gesehen, dass sein Volk sich zu selten wasche. Deshalb habe er angeordnet, dass sich jeder vor dem Beten zu waschen habe. Önder erklärte weitere religiöse Regeln und ihre angeblichen Hintergründe. Wir lachten darüber, weil wir es lustig fanden. Erst kürzlich fiel mir auf, dass man in den katholischen Gottesdiensten auch verschiedene gymnastische Übungen zu absolvieren hat: hinknien, hinsitzen, aufstehen. Zudem fasst jeder Gottesdienstbesucher zu Beginn und am Ende in das Weihwasser. Na ja, so richtig waschen tun wir uns nicht. Aber irgendwie ist das doch schon auch ähnlich.

Wenn Bert und ich morgens um fünf vom ersten Gebetsgesang des Muezzins geweckt wurden, ärgerten wir uns erst, weil wir jetzt wach waren, und dann alberten wir den Gebetsgesang nach. Das Fenster stand offen. Jeder, der durch die Straße ging, konnte unser Geheule vermutlich hören. Wenn man das heute täte, vielleicht bekäme man gleich Ärger mit der Polizei? In dem bayerischen Dorf, in dem ich wohne, werde ich täglich vom Gebetsleuten der Kirche geweckt – ziemlich genau um fünf Uhr.

Der Erdo-Böhm-Fall ist jetzt dort, wo er hingehört: vor einem unabhängigen Gericht

Erdogan und Böhmermann. Ich finde es nicht gut, dass dieses Thema jetzt alles überdeckt. Erdogan ist nicht die Türkei und Böhmermann nicht Deutschland. Es sind zwei Menschen wie du und ich, mit Schwächen, Stärken, Fehlern. Aber es gibt zum Glück noch 79 Millionen andere Türken und 81 Millionen andere Deutsche, ja zufällig fast genau gleich viele. Für jeden Türken könnte es rein rechnerisch genau einen deutschen Freund geben und andersherum.

Und wir helfen einander: Die Türkei hat 3 Millionen Flüchtlinge aufgenommen und den Arbeitsmarkt für Syrer geöffnet. Deutschland gibt der Türkei im Rahmen der EU-Unterstützung rund 400 Millionen Euro. Wir sind Freunde. Freunde halten zusammen, aber sie sagen sich hin und wieder auch die Meinung. Das dürfen wir nicht verlernen. Freunde lachen hin und wieder auch mal übereinander, das gehört dazu. Den Streit zwischen Erdogan und Böhmermann sollten wir da belassen, wo er hingehört: vor unseren unabhängigen Gerichten. Die werden ein gerechtes Urteil fällen. Ansonsten sollten wir aufeinander zugehen, Türken und Deutsche. Schon allein wegen des Liebeskummers der künftigen Studentengenerationen. Felsige Küste, türkisfarbenes Wasser.

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<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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