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Geht es Ihnen beim Lesen auch manchmal so, dass Sie bei Äußerungen der Figuren oder des Erzählers eines Romans an die Autorinnen und Autoren der Bücher denken?

Was bedeutet es, wenn ein Roman-Held von arabischer Massage träumt? – Jörg Steinleitner über ein literarisches Missverständnis

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Meinen Sie dann auch manchmal: Aha, das ist jetzt aber eindeutig die Meinung des Autors? Oder: Ah, da erzählt er gerade aus seinem Leben! Dann sollten Sie jetzt bitte weiterlesen. Denn die Sache ist viel komplizierter.

Sie wollen wissen, ob meine Frau nackt im Haus herumturnt? Ich sage es Ihnen!

Ich muss das jetzt mal klarstellen: Weder macht meine Frau am hellichten Tag bei uns im Haus „nackte Gymnasiastik“, noch bin ich in Angelina Jolie verliebt. Auch träume ich keineswegs davon, dass mir die Gitti vom Kiosk, lediglich mit einem Tanga bekleidet, eine arabische Massage verpasst, während mir die Muschi von der Metzgerei ein eisgekühltes Bier aus dem Keller holt.

Was ich von Angelina Jolie halte?

Zwar kommen derlei Szenen in Büchern, die ich geschrieben habe, vor, aber das ist auch schon alles. Die Mutter, die nackte Gymnasiastik betreibt, entstammt dem Kinderbuch „Juni im Blauen Land“. Und die Gitti vom Kiosk und die Muschi von der Metzgerei bereichern das Figurenkabinett von „Aufgedirndlt“, einem meiner Anne-Loop-Krimis; und dass ebendiese Anne Loop, Polizistin in Bayern, aussieht wie Angelina Jolie, heißt noch lange nicht, dass ich Angelina Jolie toll finde! Im Gegenteil – nervt diese Supermutti nicht manchmal sogar ganz gehörig?

Die Arbeit des Schriftstellers beginnt mit einer arabischen Massage

Warum schreibe ich das? Zum einen, weil so viele Leser in der Begeisterung des Lesens die Person des Autors mit jener des Erzählers verwechseln. Sie denken, dass wenn der Autor einer seiner Figuren dummes, schlaues und unhaltbares Zeug über Politik, Frauen, Religion, eisgekühltes Bier oder was auch immer in den Mund legt, dass dies dann die Meinung des Autors widerspiegelt. Liebe Leserinnen und Leser, dem ist nicht so! Zwar lassen wir Autoren uns von der Wirklichkeit inspirieren, also von echten Frauen, die in echten Häusern vielleicht echte Gymasiastik machen. Oder eben von echten Polizeichefs und von echten Frauen und von echten arabischen Massagen. Aber das ist lediglich der Anfang unserer schriftstellerischen Arbeit. Was dann hinzukommen muss, damit aus einer Idee eine Geschichte wird, ist die Neuerfindung der Wirklichkeit.

Wie schreibt man eine richtig gute Geschichte?

Auf völlig neue Weise wurde mir dieses Problem am vergangenen Wochenende verständlich: Ich veranstaltete eine Schreibwerkstatt mit sechs sehr engagierten Autorinnen und Autoren. Sie meisten unter ihnen hatten noch nie einen literarischen Text verfasst. Unser Ziel war es, dass es jedem gelänge, innerhalb von zwei Tagen eine Kurzgeschichte gleich welchen Themas zu verfassen.

Sowas würde mein Freund in echt nie sagen!

Ohne, dass ich sie dazu aufgefordert hätte, schrieben fast alle zunächst Geschichten auf, die sie so oder ähnlich erlebt hatten. Diese ersten Fassungen waren schon GANZ gut. Aber sie waren noch nicht RICHTIG gut. Warum? Sie bewegten sich viel zu nah an der Realität. Als ich meine Autorinnen und Autoren bat, sich von der wahren, tatsächlich erlebten Geschichte zu lösen, taten sich manche schwer. „Nein, so war das aber nicht“ oder „Sowas würde der Freund, von dem ich da schreibe, in echt nie sagen“, waren Sätze, die dann fielen.

Wissen Sie was, Ihr Freund ist mir total egal!

Ich habe dann gesagt, dass mir das vollkommen egal ist, was der wahre Freund, der der Inspirator zu dieser Geschichte war, in echt sagen würde. Dass ich aber sehr gerne eine spannende Geschichte lesen würde. Und dass mir da dieser wahre Freund einfach ein zu langweiliger Held sei. Ganz gleich, wie toll der in der Wirklichkeit ist.

Helden von Geschichten müssen einen Knall haben, sie brauchen das gewisse Etwas

Helden von Geschichten müssen einfach besonders sein. Sie müssen von arabischer Massage im Tanga träumen, sie müssen schön sein wie eine Hollywood-Supermutti, sie müssen nackt im Haus herumturnen, obwohl sie eigentlich nur ganz normale Mütter von ganz normalen Kindern sind. Alles andere wäre langweilig. Und nun kommen wir zum Anfang dieses Texts: Wenn wir Schriftsteller von solchen besonderen Helden erzählen, dann erzählen wir nicht von ihnen, weil wir sie aus unserem Leben kennen oder gar unsere Ehe- oder Traumfrauen beschreiben. Sondern weil wir wollen, dass unsere Leser ihr eigenes Leben beim Lesen vergessen.

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<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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