Sorry, No posts.
Wie geht es einem Liebesroman, der im Regal unter einem Buch über einen Massenmörder liegt? Was fühlt er? Wie lange braucht eine Wohnung, um sich an einen frischen Anstrich zu gewöhnen? Und warum tragen manche Fußballfans zwei Trikots übereinander? Jörg Steinleitner erklärt das Leben in den Dingen.

Vom Leben und Fühlen der Bücher – eine Kolumne von Jörg Steinleitner

Sorry, No posts.

Man darf nichts überstürzen. Die Wohnung muss sich erst an die neue Farbe gewöhnen!

Mein Freund Friedrich lebt allein, ist depressiv und arbeitet zu viel. Zwanzig Jahre lang sprach er davon, aus seiner Studentenwohnung auszuziehen. Allein, er tat es nicht. Man dürfe nichts überstürzen, sagte er. Ich verlor irgendwann das Interesse an den Gesprächen über seinen bevorstehenden Umzug. Eines Tages überraschte er mich: Er habe die Studentenbude gekündigt und die neue Wohnung sei bereits gestrichen. In zwei Monaten werde er einziehen. Ich fragte ihn, warum er nicht sofort einziehe. Friedrich sagte, man dürfe nichts überstürzen, die Wohnung solle sich erst einmal an die neue Farbe gewöhnen. Nach zwei Monaten zog Friedrich dann tatsächlich ein.

Friedrich sah mich an wie einen ahnungslosen Trottel.

Ein Jahr später wurde ein Balkon vor sein Küchenfenster gebaut. Ich freute mich für Friedrich, sagte, dass das doch toll sei, jetzt könne er endlich auch mal raus an die frische Luft, ohne so richtig das Haus verlassen zu müssen. Er schenkte mir einen Blick, der mich als ahnungslosen Trottel brandmarkte und ging ansonsten nicht auf meine Freude ein. Weil wir uns stets in Restaurants trafen, vergaß ich den Balkon. Als Friedrichs Geburtstag nahte, fiel Helena und mir der Balkon aber wieder ein. Was wir brauchten, war ein Geschenk. Und das war die Idee: eine Pflanze für Friedrichs Balkon!

Man muss wissen, dass Friedrich Gesamtausgaben sammelt.

Als wir ihm die Pflanze überreichten, sah er uns irritiert an. Was er damit solle, seine Wohnung sei voll von Büchern, da sei kein Platz für Pflanzen. Man muss wissen, dass Friedrich Gesamtausgaben sammelt. Na, für einen Balkon natürlich …, sagte Helena, dafür ist die Pflanze. Sie lachte ihn an. Für den Balkon, meinte nun Friedrich nachdenklich. Nach einer Pause erklärte er, dass er auf dem Balkon noch gar nicht gewesen sei. Da bist du noch nicht drauf gewesen?, riefen wir ungläubig. Nein, erwiderte Friedrich, wir mussten uns erst aneinander gewöhnen. Du meinst, du und er Balkon?, fragte Helena vorsichtig. Friedrich: Na, wer denn sonst?

Er suchte sich ein Trikot von Mario Gomez aus.

Ich fand diese Geschichte reichlich verrückt – bis wir für unseren Sohn Leonhard Fußballtrikots kauften. In Italien auf dem Markt bekommt man solche Trikots relativ billig. Leonhard suchte sich ein altes Florenz-Trikot von Mario Gomez aus, weil Florenz der Erstligaverein unseres Urlaubsorts ist. Und er suchte sich ein Paris-Trikot von Zlatan Ibrahimović aus, weil der ein Schwede ist wie der Großvater meines Sohns und weil ich, als ich so alt war wie mein Sohn in Paris gelebt habe. Mein Sohn trägt nun stets beide Trikots übereinander. Bei zweiunddreißig Grad im Schatten. Als ich ihn fragte, wieso, erklärte er: Damit keines der beiden Trikots beleidigt sei.

Ich fragte Helena, ob sie unseren Sohn für verrückt halte.

Ich erkundigte mich bei Helena, ob sie es für möglich halte, dass unser Sohn Leonhard und unser Freund Friedrich nicht ganz dicht seien, ob wir womöglich von lauter liebenswerten Verrückten umgeben wären, die Leben in Gegenständen sähen, in denen kein Leben stecke?

Helena erklärte, dass sie mich kürzlich am Bücherregal beobachtet habe.

Helena dachte nur kurz nach, dann sagte sie: Ich habe dich jüngst dabei beobachtet, wie du das Bücherregal umsortiert hast. Ach ja?, fragte ich. Ja, sagte Helena. Da lag das Massenmörder-Buch von Heinz Strunk – ich glaube, es heißt „Der Goldene Handschuh“ – auf Daniel Glattauers „Gut gegen Nordwind“. Du hast das Glattauer-Buch da unten herausgeholt und ganz weit links auf ein weiter oben liegendes Regalbrett gelegt.

Soweit ich dies beurteilen kann, erwiderten die Pflanzen ihre Begrüßung nicht.

Na klar, sagte ich. Und wurde dann zügig vorwurfsvoller im Ton: Bücher leben – Und man kann es ja wohl einem der schönsten Liebesromane der vergangenen Jahre kaum zumuten, unter einem Massenmörder zu liegen! Ich glaubte bei Helena ein sanftes Nicken wahrzunehmen. Dann ging sie hinaus und rief ein fröhliches „Guten Morgen“ in den Garten. Soweit ich dies beurteilen kann, erwiderten die Pflanzen ihre Begrüßung nicht.

Sorry, No posts.
<a href="https://buchszene.de/redakteur/joerg-steinleitner/" target="_self">Jörg Steinleitner</a>

Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

Das könnte Sie auch interessieren: