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Frauen, Arbeit, Liebe, Musik und sein kluges, herrlich komisches Hörbuch „Karaoke„ – Wladimir Kaminer spricht, wie immer, Klartext. 

„Karaoke“ – Interview mit Wladimir Kaminer

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 Jörg Steinleitner:  Herr Kaminer, in Ihrem neuen Hörbuch „Karaoke“ erzählen Sie von Ihrem Verhältnis zur Musik und wie es sich entwickelte. Eine wichtige Rolle dabei spielt Ihre Russendisko im Kaffee Burger. Ist die Russendisko nun – wir zitieren „Karaoke“ – ein „heterosexueller Aufreißschuppen“, wie es die deutschen Reiseführer anpreisen – oder „schwul und billig“, wie man in Russenkreisen sagt?

Wladimir Kaminer:  Bei dieser Aussage in „Karaoke“ ging es mir ja um das Kaffee Burger im Allgemeinen – nicht nur um die Russendisko. Und zwischen „heterosexueller Aufreißschuppen“ und „schwul und billig“ bewegt sich das ganze Programm des Kaffee Burger. Egal, an welchem Abend man reingeht, es ist immer etwas anderes los. Seine Besitzer geben unterschiedlichsten Talenten die Möglichkeit, sich auszutoben. Die Berühmtheit der Russendisko spielt dabei natürlich eine wichtige Rolle.

Jörg Steinleitner:  Wie unterscheiden sich Russen und Deutsche hinsichtlich ihres Musikgeschmacks?

Wladimir Kaminer:  Nicht wesentlich. Alle Leute auf der Welt haben die gleichen Erwartungen an die Musik: Sie muss ihnen ans Herz wachsen und sie zum Tanzen bringen. In der Russendisko haben wir auf russische Musik gesetzt, weil sie nicht so kommerzialisiert ist. Aber ich weiß inzwischen, dass es gar nicht darauf ankommt, aus welchem Land die Musik stammt. Es kommt nur auf den Geist der Musik und den Enthusiasmus der Macher an. In allen Winkeln der Erde ist eine Musik zu finden, die der unseren im Geiste ähnelt. Die kann aus dem Baskenland, aus Amerika oder Deutschland sein. Hauptsache, die Stimmung stimmt.

Jörg Steinleitner:  Welche Hauptunterschiede können Sie sonst in den zentralen Bereichen des menschlichen Lebens – Essen, Lieben, Arbeiten feststellen? – Beginnen wir mit dem Essen.

Wladimir Kaminer:  Essen gehen, das heißt in Deutschland: Man hat keine Lust selbst zu kochen und will etwas ausprobieren. Man achtet penibel auf Essensqualität und Bedienung. Russen dagegen gehen in ein Restaurant zum Feiern. Da muss das Unterhaltungsprogramm stimmen. Alles, was zu Hause nicht geht, das muss erlaubt sein. Alle zehn Minuten Bauchtänzer, ständig halbnackte Mädels auf dem Tisch – das stört beim Essen natürlich. Aber die Russen stehen da drauf.

Jörg Steinleitner:  Und in der Liebe?

Wladimir Kaminer:  Was die Liebe angeht, kann ich nur aus der Sicht des Mannes sprechen: Der deutsche Mann trägt einen großen Schatz in sich. Deshalb ist er immer sehr misstrauisch. In Russland sind die Leute viel offener. Auch Unbekannte sprechen miteinander, die Mädchen lächeln, tragen alle sehr kurze Röcke, die Mode ist ein bisschen nuttig, aber das muss nicht heißen, dass die Trägerinnen Nutten sind. Ich habe in Deutschland viele kennen gelernt, die Fans von russischen Frauen sind, sich aber große Gedanken machen, ob die Frau, die sie interessiert, es nicht auf ihre Schätze abgesehen hat. In der Regel waren das aber Männer, die ganz arm waren und nicht viel hatten. Aber sie glaubten einen Schatz zu hüten. Da sind russische Männer anders. Sie freuen sich jedes Mal, wenn sich eine Frau für sie interessiert, sind ganz offen und verstecken ihre Gefühle nicht.

Jörg Steinleitner:  Wo sehen Sie beim Arbeiten Unterschiede zwischen Russen und Deutschen?

Wladimir Kaminer:  Zum Arbeiten muss man dazu sagen, dass es in Russland keine Arbeitslosigkeit gibt. In St. Petersburg zum Beispiel, wo ich gerade war, wird alles gebraucht – vom Direktor bis zum Busfahrer. Und es muss nicht wenig Geld sein, was man dann verdient. Es kommt darauf an, was jemand leisten kann. Die Russen arbeiten gern, zeigen ihr Geld gerne und geben es auch gerne aus. Das sieht man in den Parks, wo sie viel Geld in Karaoke-Anlagen werfen – und die Armen tanzen zu der von den Reichen bestellten Musik und alle freuen sich über das Leben. Russen leben so, wie man lebt, wenn man denkt, dass man nur einmal auf die Welt kommt. Die Deutschen leben, als würden sie dreimal leben. Sie brauchen deshalb vier oder fünf Versicherungen. Die Russen haben ein ganz anderes Problem: Sie müssen alles ausgeben und austrinken, bevor es zu spät ist.

Jörg Steinleitner:  Wie erobert man eine Russin?

Wladimir Kaminer:  Obwohl ich kein junger Mann mehr bin, weiß ich das immer noch nicht. Die schönsten und jüngsten Frauen verlieben sich in solche Nichtsnutze und Schurken! Ich habe kürzlich ein Pärchen kennen gelernt – die Frau ist schön und erfolgreich und der Mann ist nichts und kann nichts. Die Frau weiß das auch, aber sie sagt einfach: Ich weiß auch nicht warum, ich habe mich eben in ihn verliebt. In Deutschland gibt es Bücher, die heißen „Wie erziehe ich meinen Mann“. In Russland haben die Frauen noch immer die Fähigkeit, sich in ein Arschloch zu verlieben.

Jörg Steinleitner:  In Deutschland herrscht seit einigen Jahren das große Jammern. Steht es aus Ihrer Sicht wirklich so schlimm um unser Land?

Wladimir Kaminer:  In meinem Umkreis gibt es kein Jammern. Dieses Jammern ist durch die übermäßige mediale Präsenz der Politik verursacht. Politiker sprechen immer als erstes über die Probleme der Menschen. Das sollten sie nicht machen! Andererseits haben die Menschen in Deutschland viel mehr zu verlieren als die Russen und sind vom Kapitalismus mehr frustriert. Die Russen dagegen begreifen den Kapitalismus als Chance, um etwas zu erreichen.

Jörg Steinleitner:  „Der ursprüngliche Plan des Kaffee Burger war es, das Gute der osteuropäischen Kultur zu zeigen. Nach einem halben Jahr ging uns das Material aus“, sagen Sie auf „Karaoke“. Ist das ein Witz oder meinen Sie das ernst?

Wladimir Kaminer:  In Deutschland ist das auch so. Es gibt vom Guten einfach immer zu wenig. Deswegen ist von der Anfangszeit des Kaffee Burger eigentlich nur die Russendisko geblieben. Wir tun aber auch viel dafür: Aus St. Petersburg habe ich 60 neue Platten mitgebracht – 60 Platten aus dem dunkelsten Underground.

Jörg Steinleitner:  Apropos „vom Guten zu wenig“ – was sagen Sie zu dem Fall des in Russland inhaftierten einstigen Ölmilliardärs Chodorkowski?

Wladimir Kaminer:  Der Fall hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die unterschiedlichsten Jugendbewegungen stark politisiert haben. Da sind natürlich sehr unterschiedliche politische Richtungen vertreten, aber hauptsächlich demokratische, was ich sehr begrüße.

Jörg Steinleitner:  Sitzt er zu Unrecht im Gefängnis?

Wladimir Kaminer:  Ich bin grundsätzlich gegen Gefängnisse. Ich glaube aber auch nicht, dass er zu Recht im Gefängnis sitzt. Ich glaube, er hat damit gerechnet. Er ist ein kluger Mann und er ist erwachsen – ich glaube, er wusste, welche Folgen sein Handeln haben würde.

Jörg Steinleitner:  Wie sehen Sie den Milliardär Abramowitsch, der als Eigner des Fußballvereins FC Chelsea berühmt wurde?

Wladimir Kaminer:  Es gibt eine Gruppe von Oligarchen, die amtlich zugelassen werden zur Politik. Roman Abramowitsch ist ja gleichzeitig Gouverneur in der Tundra-Provinz Tschutkotka. Auch wenn er dort fast nie ist. Aber der Region geht es sehr gut. Er ist ein neuer Typus von Oligarch, der sein politisches Amt wie eine Firma führt. Er stellt fähige Manager ein und fragt hart nach. Wenn Oligarchen sich um die Provinzen kümmern, kommen sie anscheinend gut mit Putins Regierung klar.

Jörg Steinleitner:  Würde eine Deutschendisko in Moskau funktionieren?

Wladimir Kaminer:  Ja, auf jeden Fall. Das Kaffee Burger hat das auch schon gemacht. Solche Kulturprojekte breiten sich jetzt aus. Die Szene in Russland ist viel größer und entwickelter als in Deutschland. Wir sind mit der Russendisko insofern eine Ausnahme, als dass wir, obwohl wir so „multikulti“ sind, so viel mediale Aufmerksamkeit bekommen. – Es gibt in Deutschland ja viele ähnliche Projekte, die nicht so bekannt sind.

Jörg Steinleitner:  In „Karaoke“ erzählen Sie auch von Ihrer Jugend in Russland, davon, dass Sie Jim Morrison cool fanden, schlechte Vorbilder hatten und Gitarre spielen lernten. Von was träumten Sie als Teenager?

Wladimir Kaminer:  Ich wollte Rockmusiker werden. Ich will das immer noch. Aber das ist nicht möglich. Jedes Mal, wenn ich ein cooles Konzert höre, denke ich mir, ich will das auch.

Jörg Steinleitner:  Warum?

Wladimir Kaminer:  Ein Rockstar kann sich viel mehr erlauben – der kann richtig blöd sein, voll auf die Kacke hauen. Das kann ich nicht. Ich werde dann missverstanden.

Jörg Steinleitner:  Was nervte Sie in Ihrer Jugend am meisten?

Wladimir Kaminer:  Ich hatte mit vielen Ängsten zu kämpfen. Ich hatte große Angst vor der Armee, große Angst keine Freunde zu finden, die üblichen Ängste, die alle Jugendlichen haben. Aber ich habe sie dann bekämpft und eine nach der anderen ausgerottet.

Jörg Steinleitner:  Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete Sie als „großen Gewinn für die deutsche Literatur“. Wir Deutschen haben Sie quasi annektiert. Hat die russische Kulturszene das schon mitbekommen?

Wladimir Kaminer:  Ich begreife mich als deutscher Schriftsteller. Meine Bücher gibt es aber auch in Russland, aber sie haben mich als deutschen Autor aufgenommen, weil ich auf Deutsch schreibe und über Themen, die für die zeitgenössische russische Literatur unüblich sind. Die Russen sehen mich als „unser Mann im Ausland, der etwas erreicht hat“. Dabei geht es aber nicht in erster Linie um meine Bücher, sondern um meine berufliche Karriere.

Jörg Steinleitner:  Kürzlich ist auch die CD „Unveröffentlicht: Wladimir Kaminer Live“ von Ihnen erschienen. Wenn man Sie live hört, hat man den Eindruck, dass Sie jede Reaktion des Publikums stimuliert. Denken Sie beim Schreiben stets daran, wie Ihr Text vorgelesen klingt?

Wladimir Kaminer:  Ich bin in erster Linie Geschichtenerzähler. Ich schreibe nur das, was ich auch ohne Scham aussprechen kann. Aber die Lesung für “Unveröffentlicht: Wladimir Kaminer Live“ war etwas Besonderes. Denn eigentlich war das als wissenschaftliche Lesung gedacht. Es ist dann aber beinahe zu einem Rockkonzert ausgeufert.

Jörg Steinleitner:  Herr Kaminer, vielen Dank für das Gespräch.

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Jörg Steinleitner

Geboren 1971, studierte Jörg Steinleitner Jura, Germanistik und Geschichte in München und Augsburg und absolvierte die Journalistenschule. Er veröffentlichte rund 25 Bücher für Kinder und Erwachsene. Steinleitner ist seit 2016 Chefredakteur von BUCHSZENE.DE und lebt mit Frau und drei Kindern am Riegsee.

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