Frau Bluhm liest „Der Atem einer anderen Welt“: 5 von 5 Blu(h)men
Ein Internat für Kinder auf Abwegen
Das Haus der Eleanor West aus Seanan McGuires Roman „Der Atem einer anderen Welt“ ist ein Internat für Kinder auf Abwegen, und zwar buchstäblich. Denn dort leben ausschließlich Kinder und Jugendliche, die irgendwann einmal auf Wege geraten sind, die sie in Länder hinter Spiegeln, Königreiche aus Zucker und Kuchen oder das Reich der Toten geführt haben.
Die Hauptfigur Eleanor ist fast 100 Jahre alt
Eleanor selbst war eines dieser Kinder, heute ist sie fast 100 Jahre alt und träumt noch immer davon, irgendwann einmal zurückzukehren in das Land hinter der unsichtbaren Tür, wo der Unsinn regiert. Bis es soweit ist, hilft sie Kindern, die aus irgendwelchen Gründen ins „normale“ Leben zurückkatapultiert wurden, sich dort wieder einzufinden. Den wenigsten von ihnen gelingt es, betrachten sie die neue Welt, die sie hinter ihren jeweiligen Türen erfahren durften, doch längst als ihr eigentliches Zuhause.
Kuchenkönigin, Zwillingsmädchen und Horrorwelt
Wie zum Beispiel die 17-Jährige Nancy, zurückgekehrt aus der Welt der Toten, wo ihr Haar weiß wurde und sie lernte so still zu stehen, dass ihr Herz nur einmal in der Minute schlagen muss. Oder Sumi, die nie stillsitzen kann und der festen Überzeugung ist, irgendwann einmal in die Welt aus Kuchen und Himbeerbrause zurückzukehren, um dabei zu helfen, die Kuchenkönigin zu stürzen. Die Zwillingsmädchen Jack und Jill, die nicht unterschiedlicher sein könnten, sehnen sich zurück nach der Horrorwelt, in der sie aufwuchsen und die sie aufgrund einer Unbedachtheit verlassen mussten. Alle Kinder, die heute Zuflucht bei Eleanor suchen, lebten in Welten, die gerade so unsinnig oder so logisch waren, dass es ihren ureigensten Persönlichkeiten entgegenkam und alle haben nichts gemeinsam, außer einem: sie wollen wieder dorthin zurück, wo sie so sein durften, wie sie waren, weil sie so akzeptiert wurden, wie sie sind.
Jedes Kind hat seinen festen Platz in der Welt verdient
Eleanor versucht ihren Schützlingen das Gefühl zu vermitteln, dass sie alle, die sie auf so unterschiedliche Arten außergewöhnlich sind, ihren festen Platz in der Gesellschaft haben und verdienen. Doch vor allem bringt sie ihnen bei, sich selbst und andere genauso wertzuschätzen, wie sie sind, mitsamt ihren Eigenarten und Biografien. Dies ist ein wunderschöner Grundgedanke, der sich durch das ganze Buch durchzieht: Ein jeder wird so stehen gelassen, wie er ist.
Seanan McGuire erzählt Unglaubliches in poetischer Sprache
Eleanor versucht zu keinem Zeitpunkt, diesen Kindern, die durch ihre Herkunftsfamilie schon so viel Unverständnis und Ablehnung entgegengebracht bekamen, ihre Träume und Hoffnungen zu nehmen, sondern regt sie zu gegenseitigem Verständnis und Empathie an. Frei nach dem Motto, dass man das Ungewöhnliche in Geschichten verwandeln muss, um es beherrschen zu können, ermuntert sie die verschiedenen Kinder, sich zu öffnen und den anderen von ihren Erlebnissen zu erzählen. Für die Kinder, die nach der Wiederkehr aus der Welt der Fantasie oft für verrückt gehalten wurden, bedeutet dies natürlich Sicherheit und Akzeptanz, die ihnen hilft zu mündigen und starken Erwachsenen zu werden. Für uns Leser*innen bedeutet das eine Fülle an fast schon unglaublichen Geschichten, die Seanan McGuire in ihrem Buch sammelt und mit wundervoll poetischer Sprache zum Leben erweckt.
Vieles verblüfft, vieles rührt und einiges bringt zum Lachen
„Der Atem einer anderen Welt“ umfasst drei in sich abgeschlossene Bücher, die alle zusammenhängen, aber durchaus dazu einladen, sie nicht unbedingt Cover-to-Cover zu verschlingen. Vielmehr sollte man sich Zeit nehmen, komplett in die wundervoll poetische Sprache der Autorin einzutauchen und sich ganz langsam und mit viel Bedacht auf die unterschiedlichen Welten der Kinder einzulassen. Vieles an diesen Geschichten verblüfft, vieles rührt und einiges bringt zum Lachen. Untermalt mit einigen wenigen, aber sehr fantasievollen Schwarz-Weiß-Bildern, lädt die Autorin ein, in den Seiten zu versinken. Ich bin sehr beeindruckt von dem Konstrukt, das Seanan McGuire da geschaffen hat. Dieser Roman erinnert mich an keinen anderen, den ich je gelesen habe, und gleicht keiner Geschichte, die ich kenne.
Gut, dass es auch fantasiebegabte Erwachsene gibt
Den Grundgedanken des Buches, dass „Anderswo“ nur so lange Legende bleibt, bis man es mit eigenen Augen sehen kann, finde ich faszinierend und bestechend logisch. Anders als Kinder, die Magie in der Welt annehmen können, ohne sie zu hinterfragen, zerstört die Logik der Erwachsenen die Fähigkeit des Reisens zwischen den Welten. Ich bin froh, dass es noch ein paar Erwachsene gibt, die sich beim Schreiben von Büchern wenigstens soweit über den Tellerrand beugen können, dass es ihnen gelingt, solche Geschichten zu ersinnen. Seanan McGuire konnte es zumindest, und so wird „Der Atem einer anderen Welt“ eine Pforte, durch die man schreiten kann, wenn man die Komfortzone des eigenen Wohnzimmers mal für eine Weile verlassen will.
„Der Atem einer anderen Welt“ hebelt Rollenmodelle aus
Die Autorin beschreibt die vergangenen Welten der Kinder als Orte, die sie genauso brauchten, wie die Kinder sie brauchten. Ein Kind, das beispielsweise mit der Schnelllebigkeit der Gesellschaft überfordert ist, bekommt die nötige Ruhe in einer Welt, wie Nancy sie erfahren hat. Ein Mädchen, das sich den Moral- und Verhaltensvorstellungen seiner unnachgiebigen Eltern unterworfen und ausgeliefert fühlt, wie die burschikose Jack, landet plötzlich in einem Land, wo die ihr bekannten Rollenmodelle keine Rolle spielen. Dies sind nur zwei der Beispiele für Kinder, die die Chance ergriffen, Teil einer anderen Welt zu sein.
Der Eindruck, sich fehl am Platze zu fühlen
Die Basis für diese Fantasie gründet natürlich auf der Tatsache, dass sich fast jeder Jugendliche, und wenn wir ehrlich sind, auch so gut wie jeder Erwachsene, des Öfteren fehl am Platze fühlt und nicht so recht weiß, wie er sich anpassen soll. Ich finde Seanan McGuire hat dafür eine fast 500 Seiten lange Metapher geschaffen, die ich jedem von Herzen empfehle.
Wer kann schon sagen, was Unsinn ist und was Logik?
Selbstverständlich weiß auch ich, dass dieses Internat und all seine Schüler*innen und die mit ihnen verbundenen Geschichten frei erfunden sind, doch ich bin ja auch nur eine Erwachsene. Wer kann schon sagen, was Unsinn ist und was Logik? Nur weil sie erfunden sind, diese Geschichten um Madame Eleanors Haus für Kinder auf Abwegen, müssen sie noch lange nicht unwahr sein. Ich glaube dieses Buch schenkt uns eine Zeit des „Vielleicht“ in einer Welt des „Möglicherweise“. Ein schöner Gedanke.