Eine junge Frau flieht vor der Erinnerung an ihre Vergewaltigung
Antje Rávik Strubel wurde für ihren Roman „Blaue Frau“ mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. „Mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision“ schildere Antje Rávik Strubel die Flucht einer jungen Frau vor ihren Erinnerungen an eine Vergewaltigung, so die Preisbegründung. Schicht um Schicht lege der aufwühlende Roman das Geschehene frei.
Machtgefälle und weibliche Selbstermächtigung
„Die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung weitet sich zu einer Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern“, urteilte die mit Knut Cordsen vom Bayerischen Rundfunk, Sandra Kegel von der Frankfurter Allgemeinen sowie anderen Größen der deutschen Literaturwelt hochkarätig besetzte Jury.
Antje Rávik Strubel kreist um aktuelle Themen wie MeToo und Europa
Tatsächlich bietet Antje Rávik Strubel mit ihrem Roman Anlass für die Diskussion und Reflexion über einen ganzen Strauß an aktuellen, aber auch historischen Themen. Nicht nur die MeToo-Thematik erzählt sie anhand eines ganz konkreten Beispiels und verstörend real. Auch politische Fragen zu Europas Vergangenheit und Gegenwart, zu Menschenrechten und Gerechtigkeit spiegeln sich in der Geschichte wider. Berührend gelingen die Beschreibungen der Liebesaffäre zwischen dem estnischen Diplomaten und der weiblichen Hauptfigur Adina.
Faszinierend ist die präzise Beschreibung des Innenlebens der Figuren
Bei der Konzeption ihrer Figuren und dem Arrangement der Situationen, in die sie sie schickt, zeigt Antje Rávik Strubel großes psychologisches Einfühlungsvermögen. Bis ins Detail können wir die Gefühle und Gedanken der jungen Tschechin, die sich auf eine Odyssee durch Europa begibt, nachvollziehen. Die Autorin verwendet dabei eine Sprache, die schön und zutreffend zugleich ist. Antje Rávik Strubel ist ein literarisches Ausnahmetalent.
„Blaue Frau“ enthält einige Faktoren, die die Lektüre beschwerlich machen
Dennoch ist die Lektüre von „Blaue Frau“ kein reines Vergnügen. Die von vielen Rezensenten beschriebene „Sogwirkung“ muss nicht eintreten. Dies liegt zum einen an Perspektivwechseln, die mehr Verwirrung stiften als Spannung bringen. Desweiteren enthält der Roman mehrere Kunstgriffe, die unbegründet oder sogar rätselhaft wirken: Warum muss die Hauptfigur mit derart vielen verschiedenen Namen benannt werden – Adina, Nina, Sala, „der letzte Mohikaner“? Welche Funktion haben die zwischen die Kapitel geschalteten Seiten, in denen die Blaue Frau ihre Auftritte hat?
Wer Durchhaltevermögen mitbringt, wird literarisch belohnt
„Blaue Frau“ ist ein besonderer Roman, aber wer ihn liest, muss Durchhaltevermögen mitbringen. Dafür wird er mit einer Fülle an klugen Beobachtungen und Gedanken, an fein ausgewählten Bildern und Symbolen belohnt.