Ist das Buch so schlecht oder gibt es andere, etwa rechtliche Hindernisse? Wie ist es zu erklären, dass dieses Buch über ein nicht sehr aktuelles Thema – ein junger Soldat im Zweiten Weltkrieg – sich zu einem sich beeindruckend stabil auf der Liste haltenden Bestseller entwickelte? Und schließlich: Muss man dieses uralte Werk wirklich lesen?
Proska krümmte den Finger, zog durch, zog mit geschlossenen Augen. Alle Kugeln fegten hinaus.
Wer mal wieder Siegfried Lenzens „Deutschstunde“ liest, wird überrascht sein, wie sehr dieser Roman aus der Zeit gefallen ist. Und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch. Umso mehr darf man nun staunen über „Der Überläufer“, Lenzens neu entdeckten Roman. Die Geschichte des Soldaten Walter Proska liest sich wesentlich flüssiger als „Die Deutschstunde“. Außerdem ist sie spannend und wirkt so nah und aktuell, als hätte Lenz das Buch erst kürzlich verfasst.
Umso rätselhafter ist es, dass dieses Buch, das Lenz 1952 fertigstellte, erst heute erscheint. Seinerzeit riet Lenzens Lektor davon ab, das Werk zu veröffentlichen. Sieben Jahre nach dem Krieg, so meinte er, interessiere sich niemand für das Schicksal eines Soldaten im Partisanenkrieg an der Ostfront. Außerdem laufe der Held, ein Wehrmachtssoldat, um dem Tod zu entkommen zur feindlichen Roten Armee über. Eine derartige Desertion sei den Lesern kurz nach dem Krieg nicht zuzumuten. Seinerzeit mag dies gestimmt haben.
Aber weshalb hat Lenz dieses wertvolle Buch später nicht noch einmal hervorgeholt? War die Enttäuschung über die Ablehnung durch den Lektor so groß, dass er dieses Erlebnis Zeit seines Lebens verdrängte? Und mit ihm das völlig ausgearbeitete Manuskript?
Proska zerrte die Frau auf die Wiese. Er ließ sich fallen und zog die Frau mit herab. Sie lag halb auf ihm, ihr Körper zitterte.
Beim heutigen Lesen nun stellt sich permanent die Frage, ob der Text womöglich deshalb so modern wirkt, weil das Lektorat vor der Veröffentlichung noch gehörig Hand angelegt hat, um die Geschichte für die heutige Leserschaft zugänglich zu machen. Doch laut Auskunft des Verlags Hoffmann & Campe ist dies nicht der Fall.
Und so beglückt uns Siegfried Lenz, der 2014 starb, posthum mit einem seiner besten Werke. Das Manuskript wurde erst im vergangenen Jahr und mehr durch Zufall im Nachlass des Schriftstellers, der im Literaturarchiv Marbach liegt, entdeckt. Der Spiegel schreibt von einer „Sensation“. Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber ein lesenswerter Roman ist „Der Überläufer“ allemal. Ähnlich wie in der „Deutschstunde“ werden hier Themen wie Pflichterfüllung, Treue, Verlässlichkeit und Gewissen behandelt. Aber hier geschieht dies auf wesentlich unterhaltsamere Weise als in der „Deutschstunde“. Die ganze Erzählweise ist einfacher, direkter und damit leichter zugänglich.
Hier gibt es keine Jungen mehr. Sie haben alle einen Beruf, Töten und Sterben.
Neben einer berührend detaillierten Beschreibung des Frontalltags eines Soldaten im Zweiten Weltkrieg – ödes Warten und Verstecken, Kuschen vor Vorgesetzten, sinnloses Töten und Sterben – entspinnt Lenz auch eine kleine Liebesgeschichte. Gefühle, Hoffnung, Sehnsüchte und Ängste eines jungen Soldaten werden hier wie dort in grandioser Nachvollziehbarkeit beschrieben.
Die Lektüre lohnt sich besonders für historisch interessierte Leser, vor allem solche, die etwas über den Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg erfahren wollen. Lenz erzählt hier aus erster Hand. Er war selbst Soldat, er desertierte und geriet in Kriegsgefangenschaft. Seine Erzählung ist absolut glaubwürdig und deshalb packend, gerade auch für sehr junge Leser.