Marc-Uwe Kling denkt unsere Welt erschreckend konsequent weiter
Dass Marc-Uwe Kling ein brillanter Beobachter und gewitzter Humorist ist, wissen wir seit es die „Känguru-Chroniken“ gibt. Doch mit seinem neuen Werk „QualityLand“ katapultiert er sich in die Liga der literarischen Visionäre. In diesem Roman beschreibt er ein Zukunftsszenario, das auf den ersten Blick verrückt wirkt; bei näherer Betrachtung jedoch hochrealistisch ist, weil Marc-Uwe Kling die Entwicklungen in Sachen Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, soziale Netzwerke, Populismus und Kapitalismus einfach nur konsequent weiterdenkt.
Peter Arbeitsloser möchte einen Vibrator retournieren, doch das System streikt
Im Epizentrum der furchterregenden Zukunftswelt von „QualityLand“ steht ein Mann namens Peter Arbeitsloser. Er heißt so, da in seiner Welt alle Menschen die Berufe ihrer Väter zum Nachnamen bekommen. Und Peters Vater war arbeitslos. Unser Held hat einen digitalen Assistenten namens Niemand, was zu lustigen Sätzen führt: „Niemand hilft ihm.“ Und er kämpft mit mehreren Problemen. Eines davon ist, dass ihm der alles wissende und alles verkaufende Onlinehändler TheShop einen Vibrator in Delfinform geschickt hat, den Peter nie bestellt hat. Peter möchte das Sexspielzeug gerne wieder zurückschicken, aber das System verweigert ihm diesen Wunsch. Seine Begründung: Das System weiß besser, welche Produkte Peter braucht als Peter selbst. Denn Peter hat sich für den Premiumservice OneKiss angemeldet. Wer sich durch einen Kuss auf sein QualityPad für OneKiss anmeldet, bekommt fortan alle Produkte, die er bewusst oder unbewusst haben will, automatisch zugeschickt.
Und dann steht noch die Präsidentschaftswahl an – Androide gegen Koch
Während Peter – unterstützt und behindert von diversen Menschen, Robotern und Maschinen – versucht den Delfinvibrator an TheShop zu retournieren, steht QualityLand vor einer Präsidentschaftswahl. Zwei Kandidaten bewerben sich: Der perfekt aussehende und alles wissende Androide John of Us und der amtierende Verteidigungsminister Conrad Koch. In der Welt, die die beiden regieren wollen, düsen selbstfahrende Autos umher, die bereits vor ihrem Mitfahrer wissen, wo er hin will. Drohnen fliegen herum und filmen alles. Überhaupt wird jeder überwacht mit Möglichkeiten, die es heute bereits gibt und die Marc-Uwe Kling nur noch ein bisschen weiterentwickelt hat.
Die Partnervermittlung gewährt ein vierzehntätiges Rückgaberecht
Die Menschen sind eingeteilt in ein aus sogenannten Levels bestehendes Kastensystem. Diejenigen, die ganz unten stehen, nennt man „Nutzlose“. Klar, dass solche Individuen kaum Chancen auf einen Lebenspartner haben. Apropos: QualityPartner ist das Unternehmen, das die Menschen verkuppelt. Die Anmeldung und der erste Partner sind kostenlos. „Ihr könnt euer Glück natürlich auch in der analogen Welt versuchen – was aber wahrscheinlich bedeutet, Single zu bleiben.“ Falls jemand nicht zufrieden ist mit seinem neuen Lebensgefährten, gewährt ihm QualityPartner ein vierzehntägiges Rückgaberecht.
Die absolute Stärke des Romans liegt auf der Hand
Es ist faszinierend, auf welch haarsträubende, aber durchaus vorstellbare Zukunftsvisionen Marc-Uwe Kling kommt. Die Welt, die er mit überbordender Kreativität beschreibt, funktioniert bis ins kleinste Detail. Es könnte sein, dass unsere gar nicht so fernen Nachfahren einmal ganz ähnlich leben werden wie die armseligen Geschöpfe in diesem Buch. Das ist die absolute Stärke dieses beeindruckenden Romans.
Zwei entscheidende Schwächen hat „QualityLand“ aber auch
Allerdings hat er auch zwei Schwächen: Zum einen liest sich dieser unglaubliche Detailreichtum, den Marc-Uwe Kling sich über unsere Zukunft zusammenphantasiert, gar nicht so flüssig. Es sind fast zu viele Geistesblitze, denen uns der Visionär aussetzt. Vom Lesegefühl her erinnert die Lektüre tatsächlich an die eines komplexen Sachbuchs. Zum anderen besteht die Geschichte vor allem aus aneinandergereihten Episoden. Letztere sind alle in sich stimmig und oftmals witzig bis aberwitzig. Aber letztlich verbinden sie sich nicht auf geschmeidige Weise zu einem großen Ganzen.
Dennoch sprechen wir eine dringende Leseempfehlung aus
Dennoch ist dieses Buch unbedingt lesenswert, denn es regt dazu an, das eigene Leben als digitaler Konsument zu reflektieren und die derzeitige Entwicklung kritisch zu betrachten. Mit satirischer Lust und großer Spielfreude lässt Marc-Uwe Kling ein Horrorszenario nach dem anderen wahr werden.
Was macht der Onlinegigant, der mit seinem Geschäftsmodell alle Papiermedien vernichtet hat, wenn er Sehnsucht nach Print verspürt?
In einer Szene sitzt Henryk Ingenieur, der schwerreiche Chef von TheShop im Bademantel in seinem „grünen Garten“ (das ist in dieser Welt etwas Besonderes!), trinkt Kaffee und liest eine echte Zeitung aus Papier. Obwohl der Gründer des größten Onlinekaufhauses der Welt 16,384 Prozent seines Vermögens E-Books und elektronischen Lesegeräten verdankt, hasst er die digitalen Dinger. Darum hat er sich eine alte Zeitungsdruckerei gekauft und lässt sich jede Nacht genau ein Exemplar seiner persönlichen Zeitung drucken, die dann frühmorgens von einem Jungen auf einem Fahrrad ausgeliefert wird. Natürlich ist jedem Leser sofort klar, wer der Henryk Ingenieur unserer heutigen Zeit sein könnte. Eine echte Zeitung aus Papier hat sich unser Henryk Ingenieur auch schon gekauft. Und mit seinem Plan, die Bürger der Welt mithilfe seiner erdrückend monopolistischen Konsumplattform zu entmachten, ist unser Henryk Ingenieur auch schon fast am Ziel. Wer sich für die Zukunft wappnen will, braucht also dieses Buch.