Zwei Mädchen, ausgesetzt und allein an einer einsamen Tankstelle
Als ich die Inhaltsangabe zu Jen Whites „Als wir fast mutig waren“ las, war ich sofort gepackt: Zwei Mädchen, acht und zwölf Jahre alt, werden von ihrem Vater an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo von Amerika ausgesetzt und müssen sich allein durchschlagen. Ohne Geld, ohne Essen, ohne Erwachsene, die helfen würden. Im Gegenteil: Während des Abenteuers, das die kleine Billie und ihre große Schwester Liberty erleben und das sie viele hundert Kilometer durch die USA führt, werden sie auch gefährlichen Menschen begegnen. Aber Liberty findet mit ihrer natürlichen Intelligenz, ihrem mitreißenden Mut und ihrem nur selten ins Wanken geratenden Überlebenswillen stets einen Ausweg: Die jungen Heldinnen von „Als wir fast mutig waren“ übernachten heimlich auf den Liegen eines Hotelpools und bestehlen eine Frau, um an Essen zu kommen. Sie werden von einem dubiosen Sheriff verfolgt und können entkommen. Sie steigen bei fremden, nicht immer vertrauenserweckenden Menschen ins Auto und ziehen den Kopf doch immer wieder gerade noch so aus der Schlinge. Sie geraten in ein Rattenhaus und schaffen es, sich zu befreien. Sie werden von brutalen Jungs verfolgt und entkommen. Sie werden mit einem Tattooman konfrontiert, von dem sie nicht wissen, ob er Freund ist oder Feind.
Dem Charme der Erzählerin von „Als wir fast mutig waren“ kann man sich kaum entziehen
Erzählt wird die spannende Geschichte von Liberty selbst. Jen White hat den Tonfall der nervenstarken Zwölfjährigen glaubwürdig getroffen. Im Laufe von „Als wir fast mutig waren“ lernen wir sie immer besser kennen und können uns immer weniger dem Charme ihres scheinbar durch nichts zu brechenden Durchhaltewillens entziehen. Faszinierend sind auch die erwachsenen Gedanken, die sich das Kind in den Ausnahmesituationen, in die sie das Verschwinden ihres rätselhaften Vaters katapultiert hat, macht. „Was hatte Mom immer gesagt? Du hast die Verantwortung, Liberty.“
Wir waren ein Team. Ich fasst ihre Hand und verschränkte unsere Finger
Die Mutter der beiden ist überraschend gestorben. Und eigentlich sollte sich der Vater um sie kümmern. Ein Vater, der sich seinerzeit aus dem Staub gemacht hatte, als Billie und Liberty noch ganz klein waren. Wenn man keine Mutter hat und einen Vater, der spurlos verschwindet, bleibt einem nur der Glaube an sich selbst und die kleine Schwester und so legt Jen White ihrer Protagonistin folgende Sätze in den Mund: „Wir waren ein Team. Ich fasste ihre Hand und verschränkte ihre Finger in meinen. ‚Es ist alles gut‘, flüsterte ich. ‚Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen.‘“ Am Ende von „Als wir fast mutig waren“, so viel sei sicherheitshalber und ohne zu viel zu spoilern (angesichts der vermutlich jungen Leserschaft) verraten, soll Liberty mit diesem Versprechen Recht behalten: Alles wird gut.