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Frau Dotzer, Ihr Roman „Goldener Boden“ beginnt mit einem mutigen Bauernsohn aus Hinterpommern: Gustav Hirsch ist erst neunzehn, als er 1896 seinem Freiheitsdrang folgt …
Gustav flüchtet vor der Tauglichkeitsprüfung nach New York und hat den Kopf voller Träume. Die Schmiede seines Vaters weiter zu betreiben, kommt nicht in Frage. Seine Vorstellung von Amerika ist geprägt von Artikeln in der „Gartenlaube“ und Erzählungen aus der Nachbarschaft – aus dem armen Pommern waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zehntausende ausgewandert, viele Briefe und Berichte schönten die Realität. Auf der Überfahrt befreundet er sich mit Max, einem Jungen aus Kolberg. Der Anfang in NY ist dann viel schwerer als erwartet. Sie stehen vor dem Nichts, halten sich mit Jobs über Wasser, Gustav findet Arbeit bei einem Friseur. Sein Freund Max hat Sinn dafür, ein Ding zu drehen … das schafft Konflikte zwischen den beiden.
Gustav ist nicht irgendeine Romanfigur, die Sie erfunden haben?
Er ist eine Romanfigur, inspiriert durch meinen Urgroßvater, der als bitterarmer Sohn eines Schmieds auswanderte. Meine Großmutter hat mir als Kind von ihm erzählt; vor einigen Jahren habe ich seinen Namen tatsächlich auf einer Passagierliste des HAPAG-Dampfers Augusta Victoria im Museum Ballinstadt gefunden. Das hat meine Phantasie ungeheuer beschäftigt. Zwei Jahre später war er wieder zurück. Kein Mensch weiß, was er erlebt hat. Mehr als jeder Vierte kehrte damals übrigens um, weil die Wirklichkeit zu hart war und Träume sich in Luft auflösten. Von meinem Urgroßvater ist allerdings verbürgt, dass er mit einigen Dollars wiederkam, die ihm dann in Hinterpommern halfen, sich aus der Armut zu befreien. Woher kam das Geld? Habenichtse wie er konnten froh sein, täglich satt zu werden in New York. Mein Roman findet eine Antwort.
Wie gelingt es Gustav, in New York Fuß zu fassen?
Er tritt der protestantischen deutschen Kirchengemeinde St. Paul bei, das bedeutet Anschluss an die Pommern. Kleindeutschland, das war damals eine eigene Welt an der Lower Eastside. Man hielt zusammen in der Neuen Welt, Landsmannschaften spielten eine große Rolle. Am Ende des 19. Jahrhunderts begann sich dieses Milieu aber aufzulösen, der Einwanderungsdruck anderer Nationalitäten und Ethnien war enorm, immer mehr Deutsche zogen in Manhattan nach Norden. Aber noch gab es Zusammenhalt. Die Deutschen waren überhaupt einflussreich in Amerika, um ein Haar wäre Deutsch ja mal Landessprache geworden. Aber mein Roman spielt fern der Welt der Politik, er bleibt bei den kleinen Leuten: da, wo man den Cent umdrehen muss und jede Nacht wieder froh ist, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Es gefällt ihm in Amerika, aber er kann nicht bleiben. Warum?
Gustav verliebt sich in eine der Töchter seines Chefs, des Barbiers Franz Samtmann, und er befeuert dessen Laden mit Ideen, seine Freundschaft mit dem Draufgänger Max erfährt eine schwere Prüfung, mitten im Getümmel von Sprachen und Religionen durchlebt er eine Turbo-Zeit, was Erfahrungen und Begegnungen angeht. Aber dann schlägt das Schicksal zu: Er muss seiner Mutter zu Hause helfen. Das Kaiserreich holt ihn zurück.
Wie geht es mit der Familie in Hinterpommern weiter?
Wir treffen Gustav erst 1935 wieder, da ist er bereits Großvater. Er ist ein Friseurmeister, der was an den Füßen hat, wie man in Norddeutschland sagt: Dank seines Fleißes und cleverer persönlicher Finanzpolitik – die hat er in New York gelernt – ist er zu Wohlstand gekommen, besitzt Immobilien. Sein ganzer Stolz ist Clara, sein einziges Kind, ebenfalls Friseurmeisterin. Im Zwist liegt er mit seinem Schwiegersohn.
Ein weiteres wichtiges Kapitel Ihres Epos ist die Zeit des Nationalsozialismus. Welche Rolle spielt die Friseurdynastie in dieser Zeit?
Dieser Schwiegersohn ist überzeugter Nazi – und seine Kunden auch. In so einem Friseurgeschäft spiegelt sich die Zeit! Nach Hinterpommern kam mit den Nazis der Aufschwung – und nirgends in Deutschland hatte die NSDAP bereits 1932, bei der letzten freien Reichstagswahl, soviel Zuspruch wie in Pommern – auch den der Handwerker. Die Begeisterung war überbordend, die große Mehrheit schwenkte die Fahnen. Die Nazis nutzten geschickt die in den Ostprovinzen allgemein feindselige Haltung gegenüber den Polen.
Sind es tatsächliche Begebenheiten, von denen Sie im Buch erzählen? Ihre Hauptfiguren sind verstrickt in den Nationalsozialismus.
Der Roman ist angelehnt an die Geschichte meiner Familie, aber löst sich auch von ihr. Mein Großvater war im Krieg Polizist und in der SS. Was er getan hat oder auch nicht – darüber wurde in der Familie geschwiegen. Soweit eine nicht untypische deutsche Familiengeschichte. Mich hat das sehr beschäftigt, und es ist ein Ansporn gewesen: dieses Schweigen. Wie total der Nationalsozialismus die Menschen in Pommern erfasst hatte, ist mir erst bei meinen Recherchen bewusst geworden: Da tat sich ein Abgrund auf an Gewalt. Ich bin Historikerin, habe Fernsehsendungen über den Nationalsozialismus entwickelt. Ich war beeindruckt, wieviel ich nicht wusste. Das NS-Euthanasie-Programm nimmt in Pommern einen schrecklichen Anfang. Oder die Zwangsarbeit: Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung waren 1942 Zwangsarbeiterinnen. Die Kreisstadt Stolp unterhielt mehrere Lager – nicht zu übersehen im Alltag der Menschen. Ich erzähle von einer Polin, die im Haushalt arbeitet. Bei meinen Recherchen habe ich in Slupsk sehr alte Menschen getroffen, die nach Stolp verschleppt worden waren. Diese Zwangsarbeit scheint mir bis heute – in einer breiten deutschen Öffentlichkeit – verdrängt. Dabei betraf das viele Millionen Männer und Frauen. Wir unterschätzen, wie tief eingegraben das ist in der kollektiven Erinnerung anderer Völker, auch der Polen. Was wirkt im Verhältnis zu unseren Nachbarn nach? Was in uns selbst? Das sind Antriebe zum Schreiben gewesen, ich versuche, das am Beispiel dieser Familie zu verdichten.
1945 kommt der nächste große Einschnitt, erneut zeigt ein Familienmitglied Mut. Es ist beachtlich, was Gustavs Tochter – Mutter von vier Töchtern – in der Folge auf die Beine stellt: Sie, die als jüngste Friseurmeisterin Pommerns gestartet ist, baut sich in der sowjetischen Besatzungszone in Bad Bibra eine Existenz auf. Meinen Sie, dass etwas von dieser Charakterstärke auch in die Folgegenerationen weitergegeben wurde? Bis zu Ihnen?
Nicht von ungefähr ist es die Stunde der Frauen genannt worden. Ich habe aus Erinnerungen und Berichten meiner Tanten und meiner Großmutter schöpfen können. Clara, meine Figur, wächst über sich selbst hinaus – wie alle Frauen, die damals die Leben ihrer Kinder gerettet haben. Ohne meine Großmutter wäre ich nicht existent. Das Flüchtlings-Gen ist auch an mich, die Enkelin, weitergegeben worden: immer tüchtig sein, sich beweisen müssen, das glaube ich, prägt viele, die in den 60ern geboren wurden, eine sehr emsige Generation.
Sie zeigen nicht nur, wie die Erwachsenen mit den Wirren des Jahrhunderts hadern, sondern auch die Kinder. Dies scheint Ihnen besonders wichtig zu sein?
Genau. In meiner Geschichte werden die Töchter verpflichtet, Stillschweigen über die NS-Vergangenheit ihres Vaters zu üben – ein Stillschweigen, das sich dann in dieser Familie verselbständigt und auf ihr lastet. Meine Erzählung endet 1956, mitten im Wirtschaftswunder. Revoltiert hätten die Kriegskinder, die ich beschreibe, nie. Sie waren Handwerker-Kinder und gehorsam. Wie überhaupt 1968 eine Bewegung junger Menschen war, die intellektuell waren.
Sehen Sie Parallelen zur heutigen Zeit – können wir aus der Geschichte dieser Familie etwas lernen?
Unsere Situation heute ist natürlich gänzlich anders, wir haben Glück. Die Unfreiheit kommt aber nicht nur von rechts. Wir sind in einer Zeit der Polarisierung. Ich beobachte, wie oft direkte Auseinandersetzung gemieden wird. Ich habe das Gefühl, dass es auch mit dem „braunen“ Anteil in den Familiengeschichten zu tun hat: diese Unfähigkeit, Konflikte wirklich auszutragen. Sicher nur einer der Gründe, aber auch ein wichtiger. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist Vergangenheitsbewältigung vorbildlich geschehen, in den Familien selber sieht es anders aus.
Anhand der Geschichte der drei Generationen Friseure erzählen Sie auch auf beeindruckende Weise deutsche Geschichte und deutsche Handwerksgeschichte. Wenn Sie es in wenigen Sätzen komprimieren – was bedeutet dieses Jahrhundert für die sogenannten „kleinen Leute“?
Das 20. Jahrhundert dreht sie in besonderem Maß durch den Fleischwolf – aber die meisten haben eben auch ein bisschen mitgedreht. Alles zu verlieren, wieder aufzubauen – das sind nach 45 Erfahrungen, die weit über das hinausgehen, was meine Generation erfahren hat. Den Aufstiegswillen haben sie vererbt, alle haben wie besessen nach vorn geschaut und einen kuriosen Materialismus entwickelt. Die blinden Flecken sind aber wie schwarze Löcher im Weltraum, sie saugen Energie ab. Die sind nicht weg.
Haben Sie aus dramaturgischen oder anderen Gründen hier und da die wahren Geschehnisse verformt?
Ich kenne die „wahren Geschehnisse“ nicht, die erzählten sind meine Realität. Die historischen Zusammenhänge sind sauber recherchiert, die Charaktere und ihre Beziehungen zueinander haben eine innere Wahrheit. Ob meine Großeltern, die mich inspiriert haben, von Gewaltverbrechen gewusst haben? Berichtet haben sie davon nicht. Von der Provinz Pommern in jener Zeit zu erzählen, hieß aber für mich, ich musste auch von Verbrechen erzählen.
Ihr Buch würde sich wunderbar für eine Verfilmung eignen. Das Friseurhandwerk ist ein spannendes Handwerk. Gibt es bereits Überlegungen für eine Filmfassung?
Nein. Das nehme ich aber als Kompliment, dass Sie das sagen. Wenn ich ein Drehbuch hätte schreiben wollen, hätte ich das versucht. Nein, ich wollte gern auch zeitlich einen langen Bogen spannen, in der Hoffnung, dass es Leser gibt, die darin eigene Zusammenhänge erkennen – oder besser verstehen. Das ist ja auch der Grund, warum ich selbst gern lese.
„Die vor uns waren, haben uns unsere Träume und Ängste vermacht“, schreiben Sie in einem Text zu Ihrem Roman. Welche Träume und Ängste gehen Ihnen im Kopf herum, wenn Sie an Ihr ganz eigenes Leben denken?
Meine Sympathie liegt ja klar bei dem Jüngling mit der Geige, der vor dem Kommiss flieht und alles auf eine Karte setzt: Amerika. Angst und Mut, das vereint er in einer Person. Durch seine Erfahrungen gewinnt er eine Widerborstigkeit, die ihn dagegen immunisiert mitzumarschieren. Ängstlichkeit, glaube ich, war dann in den Flüchtlingsfamilien noch lange zu Haus. Die Kinder standen unter besonderem Leistungsdruck, und viele Enkel sind mit der Unsicherheit ihrer Eltern aufgewachsen. Wurzeln schlagen, mit Selbstverständlichkeit etwas tun, das braucht Zeit. Jetzt bin ich alt genug, mich von Druck freizumachen – ich mache, was ich möchte: Geschichten erzählen.
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