Eine literarische Einladung auf die Antillen voll poetischer Munterkeit
Dieses Buch ist nichts weniger als eine große Überraschung, ein literarischer Glücksfall. Kannten wir Hilde Domin bislang vor allem als suchende Dichterin, in deren Menschlichkeit verströmenden Versen stets auch das düstere Erlebnis des Fremdseins und der Flucht mitschwingt, so tritt uns hier eine neue Hilde Domin entgegen: Die von den Herausgeberinnen Denise Reimann und Carla Swiderski im Nachlass entdeckten und durch ein Vorwort fachmännisch eingeordneten Kurzgeschichten laden uns ein zu einer Reise auf die Antillen und zu Hilde Domins ersten literarischen Kunstwerken, deren poetische Munterkeit ihresgleichen sucht.
Hilde Domin floh wegen der Nationalsozialisten auf die Antillen
Als Jüdin war Hilde Domin, die sich 1939 bereits seit einigen Jahren in Italien aufhielt, wegen der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Rückkehr in ihre deutsche Heimat nicht möglich. So floh die studierte Juristin, Philosophin und Nationalökonomin mit ihrem Mann über England in die Dominikanische Republik. Dort verbrachte die Frau, die später eine der bedeutendsten Dichterinnen deutscher Sprache werden sollte, die Kriegsjahre und auch die Zeit bis 1954. Und sie nutzte diese Zeit!
Eine Hexe als Köchin und ein menschenfressender Naturforscher?
Die acht Erzählungen, die uns diese Erstausgabe der bislang nur vereinzelt in Zeitschriften veröffentlichten „Antillengeschichten“ schenkt, strotzen vor Witz und Sinn für Skurriles. In ihnen erzählt Hilde Domin von ihren Erlebnissen auf den Antillen: von ihrer Köchin, die sich als vermeintliche Hexe entpuppt, weil sie es versteht, mit einem weißen Pulver einer Henne das Gackern auszutreiben; von einem skandinavischen Naturforscher, der von den Einheimischen verdächtigt wird, Frösche und Schlangen – ja vielleicht sogar Kinder? – zu fressen. Von Lastwagen, die inmitten der Wildnis stehen bleiben und von untreuen Ehemännern, die am Ende doch aus dem eigentlich verdienten Gefängnis befreit werden, weil Frau sie auf eine – zugegeben – unromantische Weise liebt.
Wir erleben Magie und Kultur und eine Hilde Domin als unterhaltende Erzählerin
Magie und Natur, interkulturelle Missverständnisse und Reiseabenteuer, menschliche Charakterstudien und Tiere mit bedeutsamen Namen und kuriosen Eigenschaften fügen sich in dieser Sammlung zu einem ganz und gar besonderen Lesevergnügen zusammen. In jeder Geschichte präsentiert sich Hilde Domin aufs Neue als präzise Beobachterin und Autorin mit Talent für unterhaltendes Erzählen.
„Selbst Salvador Dali hätte keinen nackteren Baum erfinden können.“
Gleichzeitig lässt sich bereits aus diesen Texten ihr poetisches Geschick in der bildhaften Beschreibung herauslesen: „Zu beiden Seiten öffnet sich auf dieser Höhe eine weite Aussicht auf die dunkelblauen Hänge der Zentralkordillere, mit dem ganzen Reiz des Tropenpanoramas, in dem die feucht-heiße Luft die Ferne heranrückt, ohne ihr damit den geheimnisvollen Schleier zu nehmen. Die benachbarten Hügel waren grün und dicht mit Wald bestanden. Zu unserer Rechten streckte ein abgestorbener Mahagonibaum seine blattlosen Äste ins Blau wie die Hand eines riesigen Skeletts. (Selbst Salvador Dali hätte keinen nackteren Baum erfinden können.)“
Warum sich die Lektüre der „Antillengeschichten“ dreifach lohnt?
Ulrike Möltgens kunstvolle Illustrationen, die von collageartiger Außergewöhnlichkeit sind, passen perfekt zu den mal exotischen, mal absurden Situationen, in die uns Hilde Domin lockt. Das Nachwort der renommierten Literaturkritikerin Margarete von Schwarzkopf, die Hilde Domin persönlich kannte, fügt dem Text interessante und überraschende Detailinformationen hinzu. Und so lohnt sich die Lektüre dieses schön ausgestatteten Buchs aus drei Gründen: Es ist lustig, es lädt ein zu einer Reise in die Karibik und es bietet künstlerische, literarische und poetische Tiefe, ohne anstrengend zu sein.