Becks letzter Sommer
Leseprobe
Beck war spät dran, er raste mit dem Audi zur Schule. Aus
den Boxen dröhnte Transmission von Joy Division. Er
steckte sich eine Zigarette an und drehte die Lautstärke auf.
Kurz darauf hielt er auf dem Lehrerparkplatz.
Als Beck durch die Flure des Georg-Büchner-Gymnasiums
ging, spürte er wieder, wie sehr er dieses Gebäude
hasste. Hier hatte schon sein Vater unterrichtet, hier hatte
er selbst das Abitur gemacht, ehe er nach dem geplatzten
Traum von einer Musikerkarriere an genau dieser Schule
Lehrer geworden war. Inzwischen kannte er jeden Winkel,
jedes Geräusch, jedes Gefühl: Jungs, die heimlich auf den
Toiletten rauchten, kichernde Mädchen, ein küssendes Pärchen
auf dem Schulhof, hektische Gesichter, Gelächter, Versagensangst,
laute Lehrerstimmen. All das wiederholte sich,
jeden verdammten Tag. Die Gefühle blieben immer die gleichen,
während die Menschen, die sie erlebten, austauschbar
waren.
Nachdem er zwei Stunden Deutsch unterrichtet hatte, befand
sich Beck nun im WestŸgel. Er hatte die 11b in Musik.
Das Fach teilte er sich mit Norbert Berchthold, einem verklemmten
Anfangvierziger, den er aus tiefster Seele hasste.
Diese betuliche, unfassbar langweilige Frank-Elstner-Art,
diese Hochwasserjeans der Karstadtmarken Le Frog und Barisal,
diese weißen Birkenstocksandalen mit weißen Socken
im Sommer. Norbert Fucking Berchthold.
Das einzig Interessante an ihm war, dass er eine dreizehn
Jahre ältere Freundin namens Inge hatte, deren Falten im
Gesicht so tief waren, als hätte man mit einem Messer lange
Striche in Ton geritzt. Beck nannte sie immer die »grimmige
Inge«, weil sie nie lachte. Die grimmige Inge war arbeitslos,
und hin und wieder kam sie Berchthold nach dem Unterricht besuchen,
dann schlossen sich die beiden im Hinterzimmer des Musikraums ein,
rauchten es voll und hörten
französische Chansons oder Joe Cocker. Übel nahm Beck
seinem Kollegen aber vor allem zwei Dinge. Erstens, dass
sich dieser alte Öko-Pazi⁄st vor ein paar Jahren tatsächlich
auf die Schienen eines Castor-Transports gelegt hatte. Wie
gestört konnte man sein? Und zweitens war da noch die
Werner-Tasse, aus der Berchthold jeden Tag seinen Kaffee
trank. Abartig. Und mit so was teilt man sich dann noch
muntere zwei Jahrzehnte lang den Job, dachte Beck, aber
ohne mich. Allerdings: So wie es aussah, kam er aus dieser
Lehrersache nicht mehr raus, also würde er Berchthold in
den nächsten Jahren wohl irgendwie kunstvoll ermorden
müssen. Vielleicht Gi∫ in den Kaffee schütten, dann hätte es
sich endlich ausgewernert.
Beck betrat das Musikzimmer. Mit einem Buch in der
Hand kam Anna Lind auf ihn zu. Anna war fast achtzehn
und ein wahrgewordener Lehrertraum oder, wie Kollege
Ernst Mayer neulich Beck zugeraunt hatte, ein »geiles
Stück«. Ihr langes Haar war blond, ihre blauen Augen
glänzten, als ob sie ständig den Tränen nahe wäre, und ihr
Gesicht hatte eine unschuldige Kühle, die schon fast wieder
durchtrieben wirkte. Wenn Beck sie ansah, kamen ihm
immer Wörter wie unfassbar sexy, heiß, göttlich in den
Sinn.