Noch immer befinden sich Anja und ich im Krieg gegen den Krebs
Es ist eine dieser Nächte, in denen ich zu viele Dinge in meinem Kopf habe und sie nicht hinausbekomme, egal wie viele Schafe ich zähle und sattle. Es ist Sommer 2016 und noch immer befinden Anja und ich uns in einem Krieg. In dem Kampf gegen die Krankheit und dessen Begleiter. Ich werfe mich auf der Matratze umher, fühle in meinem Herzen, wie es Anja zurzeit gehen muss. Sie duckt sich immer noch vor Kugelhagel und Kanonengeschossen auf dem Schlachtfeld. Wie kann ich nur helfen? Die ständige Übelkeit durch das Dünndarmstoma bringt sie schier zur Verzweiflung, saugt ihr die Lebenskraft aus und erstickt jegliche Leichtigkeit, die sie nötig hat, um zu gesunden.
Wie findet man Stabilität und Zuversicht in diesem Chaos
Also: Wie findet man Stabilität und Zuversicht in diesem Chaos? Wo sind die Botschaften aus dem Bauch heraus, die man jetzt nötig hätte? Ich knipse das Licht an und beginne eine Liste vorzubereiten, die uns helfen soll. Eine Liste mit schönen Gedanken, Zielen und ganz viel Liebe. Und ich bestelle Anjas Lieblingsbuch „Jenseits von Afrika“ im Internet. Denn ich bin wild entschlossen, mich so lange in Optimismus zu wickeln, bis er uns beiden perfekt passt. Wie ein langeerträumtes Ballkleid für den Schulabschluss, das einer Krönung würdig ist.
DER INHALT VON „KREBSKRIEGERINNEN“ IN KÜRZE: |
Als Anja Koeseling mit der Diagnose Darmkrebs konfrontiert wird, verliert sie kurzzeitig den Boden unter den Füßen. Ihre Freundin Mina Teichert kann ihre Gefühle nur zu gut verstehen: Vor Jahren hatte sie Gebärmutterhalskrebs. Mit vereinten Kräften ziehen die beiden ins Gefecht, das aus Medikamenten, Operationen, Ängsten und wenig hilfreichen Kommentaren besteht. Beide wissen: Krebs kann jeder kriegen, und um ihn erfolgreich zu bekämpfen, braucht es außer der medizinischen Betreuung Freundschaften, die einem die Kraft geben, trotz Krankheit frei zu bleiben. Berührend erzählen die Freundinnen abwechselnd vom erfolgreichen Kampf gegen die Krankheit, die beider Leben so sehr bestimmt hat. |
Ich habe eine mega-coole Überraschung für Anja
Einige Tage später habe ich auf der Fahrt zu Anja nicht nur einen Plan im Gepäck, sondern auch eine mega-coole Überraschung. Anjas quirlige Tochter Marie hat mir geholfen, sie zu verwirklichen und transportiert nicht nur mich, sondern auch das schrägste Lastenfahrrad der Welt auf einem Anhänger zu Anjas Haus. Es ist pink, hat vorne zwei kleinere Räder und dazwischen eine Art Bank, auf der ich Anja umherkutschieren kann. Und das alles Dank gekonnter Schweißtechnik eines Experten aus der Familie und viel Kreativität.
Sie wird ausflippen, dessen bin ich mir ganz sicher
„Super, Anja wird ausflippen“, quietsche ich begeistert, als wir rückwärts auf den Hof einparken. „Frische Luft ist das Beste, was ihr jetzt passieren kann“, stimmt Marie mir zu und stellt grinsend den Motor ab. Ich kann die beiden Hunde schon bellen hören, als ich aussteige und zur Tür des kleinen roten Hauses eile. Anja soll unbedingt die Augen verbunden bekommen, bevor ihr der Blick auf die rosa Klapperkiste gewährt wird.
„Hallihallo!“ Die Tür öffnet sich viel zu schnell, als hätte sie schon auf uns gewartet. Dabei hatte ich mich doch gar nicht angekündigt. „Überraschung!“, rufe ich, stolpere über Hundehintern, die um mich herumwackeln, und drücke meine Freundin einmal sacht an mich. Vage nehme ich den Stomabeutel unter ihrem T-Shirt wahr.
„Hey, super siehst du aus“, meint sie, als ich etwas Abstand nehme. „Du hast ja total abgenommen“. Ich hebe die Augenbrauen und frage mich, ob sie selbst schon mal in den Spiegel geguckt hat.
„Du bist viel dünner als ich.“ Meine Fingerspitzen tanzen über ihren Beckenknochen, der über dem Bund ihrer Jogginghose hervorguckt. Nur ein bisschen, aber es reicht, um meinen Magen vor Beunruhigung summen zu lassen.
Ich werde dir jetzt die Augen verbinden und dich um die Ecke bringen
Ich dränge das Gefühl zurück, wedle mit einem dunkelblauen Seidentuch, das ich aus meiner Jeanstasche zaubere. „Du musst jetzt ganz tapfer sein“, sage ich ernst und fixiere sie mit einem Blick, der keine Wiederrede zulässt. „Ich werde dir jetzt die Augen verbinden und dich um die Ecke bringen.“ Ihre Hand fliegt einmal kurz an ihre Lippen und sie wird blass.
„Ähm, ich meine im Sinne von „manövrieren“. Nur dort rüber zum Parkplatz, du weißt schon“, beeile ich mich das Bild gerade zu rücken. Anja sagt nichts und ich frage mich, ob ich Marie zu Hilfe holen sollte, die sich beim Auto versteckt.
„Alles okay?“ Ich lasse das Tuch wieder sinken. Vielleicht sollten wir die Überraschung lieber verschieben? Überraschungen sind ja bekanntlich nicht jedermanns Sache.
„Nur die Übelkeit, geht schon wieder“, meint sie dann tapfer und lässt sich von mir die Sicht nehmen. Ich grinse wie bescheuert, während ich sie zum Anhänger führe und kann meine Euphorie kaum zügeln.
„Also, bei drei nehme ich die Binde ab“, verkünde ich und positioniere Anja direkt vor dem Anhänger. „Eins, zwei … Tadah!“ Das Tuch segelt zu Boden, Anjas Augen weiten sich und ich halte die Luft an. Komm schon! Bitte sei begeistert … Sie braucht einen Moment, um zu erkennen, wofür unser exklusives Fahrrad eigentlich gut ist.
Seifenblasen schweben umher, machen den Moment zu etwas Zauberhaftem
Ihre Miene hellt sich Stück um Stück auf wie die Sonne, die in diesem Moment durch die Wolken bricht und unsere Nacken wärmt.
„Geil.“ Seifenblasen schweben umher, machen den Moment zu etwas Zauberhaften und Unvergesslichem. „Ihr seid ja verrückt.“
„Ein bisschen“, antwortet Marie und zeigt eine Maßeinheit, die gar nicht so klein aussieht.
„Na, da bin ich ja mal gespannt, wie lange ihr es durchhalten werdet, mich durch die Gegend zu kutschieren“, haucht Anja fröhlich.
Ich lächle, sie hat wirklich keine Ahnung, was für ein Fliegengewicht sie zurzeit ist. Wir drei nehmen uns in den Arm. Für einen Moment ist die Welt in Ordnung und ich freue mich auf den Nachmittag zu zweit mit Picknick und Hundespielen am See. Marie hat noch andere Pläne, die keinen Aufschub dulden.
Hunger? Ich fürchte, dieses Gefühl wurde mir herausoperiert
„Hast du schon Hunger?“, frage ich und weiche einem Schlagloch aus.
„Hunger? Was ist das?“, stellt sie mir die Gegenfrage. „Ich fürchte, dieses Gefühl wurde mir zusammen mit dem Dickdarm herausoperiert. Appetit übrigens auch.“
„Och, ist das jetzt positiv oder negativ?“, frage ich eher mich selbst. Ich meine, so eine Topmodelfigur wie Anja sie zurzeit hat, kommt nicht von allein. Aber keinen Bock mehr auf Pizza zu haben, stelle ich mir tragisch vor. Ich hatte durchaus bemerkt, dass Anja auf Gerüche sehr sensibel reagiert. Besonders wenn es um Fleisch geht, was die Hundefütterung zu einer Mammutaufgabe werden lässt, wenn man jedes Mal neben den Napf kotzen könnte. Grundsätzlich muss man bei einem fehlenden Dickdarm darauf achten, dass eine leichte Kost verzehrt wird. Die Verdauung von Pflanzen und schwer spaltbarer Stärke ist nun sehr erschwert, was vor allem rohes Gemüse, Körner und Samen zum No-Go macht.
„Na gut, wie du willst. Ich glaube die Hunde wären auch sehr traurig, wenn sie jetzt schon anhalten müssten.“
Anja hält die Hände in den Wind, ich frage mich derweil, ob man Terrier wie Huskys vors Rad spannen könnte.
Unser Körper ist ein Mysterium, zu dem jeder Ratgeber eine andere Meinung hat
„Ich habe super schöne Bananenbowl gemacht“, japse ich und donnere etwas zu schnell um die nächste Kurve. Anja quietscht und lacht. Ein wundervolles Geräusch. „Das hört sich gut an. Bananen sind eines der wenigen Dinge, die ich bei mir behalte.“ Ein Hoch auf diese Frucht! Neben gekochten Kartoffeln, Reis, Haferflocken und geriebenen Apfel ist es unsere rettendes Superfood. Auch super sind quellende Lebensmittel wie Flohsamen, Weizenkleie, Haferkleie und Pektine.
Es ist wirklich verzwickt. Ob gesund oder nicht, die Ernährung ist immer ein wichtiges Thema. Und unser Körper immer noch ein verflixtes Mysterium, zu dem jeder Ratgeber eine andere Meinung hat. Während ich so in die Pedale trete, denke ich über Nahrung nach. Und ich meine Nahrung im Sinne von Leib und Seele nähren. Denn oft sind wir alle viel zu sorglos, was wir in uns hineinschaufeln.
Ich esse nichts mehr, was schon von der Industrie fertiggestellt wurde
Wir fahren eine Weile wortlos durch den schönen Wald und ich fülle meine Lungen tief mit frischer Luft.
„Du bist, was du isst“, sinniert Anja nach einer Weile. „Was genau bin ich dann eigentlich? So als Ballaststoffvertilger?“
„Gute Frage. Eine solide Persönlichkeit?“
„Und was bist du?“
„Die Inkonsequenz in Person.“ Ich schaffe es einfach immer noch nicht, die schädlichen Dinge wie Kaffee und Zucker aus dem Hals zu lassen. Ich bin süchtig nach Koffein und Schokolade und mein innerer Schweinhund ist ein riesen Getier in Maßanzug und Ringelsocken. Ich weiß genau, dass ich besser grünen Tee als Koffeinquelle nutzen sollte, aber der schmeckt mir einfach nicht. Wobei alles eine Gewöhnungssache ist und ich früher auch Kaffee nicht mochte. Immerhin hatte ich mich von Energydrinks entwöhnt, das ist ja auch schon mal was. Und ich esse nichts mehr, was schon von der Industrie fertiggestellt wurde und nur noch in die Mikrowelle muss. Ich meide raffinierte und konservierte Lebensmittel und auch Tiefkühlkost habe ich zu einem großen Teil Lebewohl gesagt. Was auch sehr ungesund ist, sind die ganzen Light-Produkte, aber das ist ja kein Geheimnis. Es gibt Leute, die diese Stoffe mit Nervengiften vergleichen, krass, oder?
Ab jetzt wird strikt auf die Ziele auf unserer Liste hingearbeitet!
Wir erreichen den See und ich kann es kaum erwarten, meine Füße ins kühle Nass zu stecken. Der Ritt war doch anstrengender, als gedacht. Wir hören leise Musik aus unserer Kriegerplaylist, aber nur die sanften und ruhigen Songs, und legen uns auf die Patchworkdecke von Anjas Oma. Im Hintergrund singen die Vögel und die Hunde holen unermüdlich Stöckchen und ihre Gummibälle.
„Hach, irgendwie ist es doch gerade herrlich, oder?“, frage ich nach einer Weile und blinzle zu Anja hinüber.
„Ja, ein bisschen schon“. Sie schaut aufs Wasser hinaus. Eine Entenfamilie schwimmt unweit der Seerosen, wir sind beinahe allein hier in der Natur.
„Ein bisschen? Ich finde viel besser geht es gar nicht.“
„Doch, ein größerer See, ich mit Surfbrett unter dem Arm und Energie im Körper wie mit Dreizehn.“
„Mh.“ Das bringt mich auf mein Vorhaben und ich krame meinen Block samt Stift aus der Tasche.
„Wir machen jetzt eine Wunschliste“, kündige ich an und schreibe den ersten für Anja auf. Reise nach Afrika mit einer Person ihrer Wahl, was nicht zwangsläufig ich sein muss, denn ich reise gar nicht so gerne. Und ich habe ziemlich viel Angst vor Löwen.
„Und ab hier wird strikt auf diese Ziele hingearbeitet“, bestimme ich einfach.
Das wirst du bald machen. Nach Afrika auf Safari fahren
Anja hebt ihre Augenbrauen. „Ich bin schon froh, wenn ich mich mal nicht übergeben muss.“
Ich fühle mich etwas ausgebremst und zaubere mein nächstes klitzekleines Geschenk hervor. „Pack aus“, fordere ich sie auf und sie schmunzelt über das Weihnachtspapier, in dem es verpackt ist.
„Du sollst mir nichts schenken, das weißt du.“
Ihr Mund verzieht sich für einen winzigen Moment zu einem Schmollen. „Wie soll ich das denn jemals wiedergutmachen, wenn du ständig so lieb bist.“
Ich zucke die Achseln. „Ich kann dich ja demnächst mal mit irgendwas ärgern, wenn dir das lieber ist.“ Die Sonne verfängt sich in ihrem dunklen Haar, lässt kleinste Lichtblitze über ihr Gesicht tanzen und ich lehne mich entspannt auf der Decke zurück, während sie das Papier aufreißt.
„Ein Afrika-Reiseführer“, haucht sie überrascht und ich deute auf meine krakelige Schrift zu Punkt 1 auf der Liste.
„Das wirst du bald machen. Nach Afrika auf Safari fahren.“
„Hoffentlich.“
„Ganz sicher. Und ich werde einen Ausritt am Strand von Amrum machen, wie ich es schon seit Jahren vorhabe.“ Das wäre Punkt zwei.
„Ich werde Herzen in den Sandstrand von Swakopmund malen“, ergänzt Anja. „Wo ist das denn?“, wundere ich mich.
„Na in Namibia“, lacht Anja.
„Ich werde in einer Igelauffangstation in die Leere gehen und Igelkinder mit der Flasche aufziehen“, führe ich fort.
„Ich werde Kitesurfen und Pinguine beobachten.“
„Ich werde jedem erzählen, ich hätte Philosophie studiert, auch wenn es eine Lüge ist.“
Anja kichert. „Du bist verrückt.“
„Besser verrückt, als verstellt.“
Unsere Liste wächst und liest sich nach einer halben Stunde wirklich wunderbar.
Einen Bestseller schreiben
Katzen und Hunde aus dem Tierheim adoptieren
Eine ordentliche Party mit allen Kollegen feiern und jedem erzählen, man hätte ein Jahr auf der ISS zu Recherchezwecken verbracht
Einen Schmetterlingsbaum pflanzen
Einen Song schreiben, zumindest den Text
Zusammen mit unseren Vätern Whiskey trinken
Mit den Töchtern um die Häuser ziehen und nostalgisch werden.
Arielle die Meerjungfrau gucken, aber nur die Disney-Version
Eine eigene Schmuckkollektion erstellen
Ein Insektenhotel bauen
Mit Mama auf die Buchmesse gehen
Egal, wie kacke man sich als Kranke fühlt, die Arbeit muss erledigt werden
Als wir von unserem sportlichen Ausflug zurück sind, ich total verschwitzt, Anja total müde, muss Anja leider noch eine andere To-Do-Liste abarbeiten, denn egal, wie kacke man sich oft fühlt während des Heilungsprozesses, die Arbeit wartet nicht und Jobs müssen erledigt werden. Und gerade als Literaturagentin muss alles auf den Punkt genau fertiggestellt werden.
„Ach, Mina. Ich hab gar keine Kraft, vielleicht sollte ich einfach alles hinschmeißen“, fragt sich Anja.
Die Leichtigkeit von eben ist dahin.
„Das würdest du bereuen“, antworte ich. Schließlich weiß ich aus Erzählungen, wie schwer es war, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen, sich bei Verlagen zu etablieren und gute Pferde in seinen Stall zu bekommen.
„Ich weiß“, sagt Anja leise und schlendert in ihr Büro. Tapfer folge ich ihr, weiß ich doch, um was es heute geht und stelle ihr eine Karaffe mit frischem Wasser hin. Die Buchhaltung muss gemacht werden. Abrechnungen müssen sortiert, Quittungen gestapelt und neue Rechnungen gestellt werden. Alles Dinge, die mir mal so gar nicht liegen, deshalb bin ich auch raus und werde mich um andere Dinge kümmern. Zum Beispiel darum, die Küche aufräumen und ein paar aufmunternde Kalendersprüche zum Besten geben, damit Anja nicht den Mut verliert beim Papiere stapeln.
„Ich hab dir das Wasser für die Badewanne angestellt, Herzchen“, lässt sie mich wissen, als sie nach einer kleinen Pause aus dem Bad von oben kommt. Sie zwinkert, ich schnuppere an mir.