
Ein junger Ghostwriter auf der Flucht vor der eigenen Vergangenheit. Eine Filmdiva, die ihre Erinnerungen nach Belieben ordnet. Und ein Strandpavillon, der wie ein Zwischenraum wirkt – zwischen Gezeiten, Gefühlen und Lebenslügen. In „Sonnenaufgang Nr. 5“ führt Carsten Henn zwei Menschen zusammen, deren Wahrheiten unterschiedlicher kaum sein könnten und die doch denselben Schmerz teilen.
Zwei Menschen, zwei Erinnerungen – und ein gemeinsamer blinder Fleck
Jonas, 19, möchte anderen dabei helfen, ihr Leben zu strukturieren, weil er mit seinem eigenen ringt. Stella Dor, früherer Leinwandstar, lebt zurückgezogen in einem Haus auf Stelzen und sammelt Erinnerungen auf Zetteln aller Art. Hinter ihrer Exzentrik steckt ein Wunsch: die eigene Geschichte in ein sanfteres Licht zu rücken.
Henn zeichnet die Annäherung dieser beiden Figuren mit leisen Tönen. Jonas verdrängt, was in ihm gärt; Stella rückt zurecht, was nicht ins Bild passt. Erst im Austausch entstehen Risse – und die Möglichkeit, den eigenen Schatten nicht mehr auszuweichen.
Das Meer als Spiegel – und ein Ort voller Geschichten
Die Küstenkulisse trägt die Handlung nicht nur, sie prägt sie. Das stetige Wandern des Wassers spiegelt die innere Bewegung der Figuren, das Licht verschiebt die Perspektiven.
Zwischen Dünen, Zettelchaos und Strandpavillon entsteht ein Ensemble, das dem Roman Tiefe verleiht:
- Paul mit seinem Golden Retriever „Guter Junge“, der trotz aller Vergesslichkeit jeden Tag denselben Wunsch bewahrt.
- Imke und Britta, die Pensionsschwestern, deren Herzlichkeit an alte Filmkomödien erinnert.
- Bentje, die an der Bushaltestelle eine Stimme sucht, die nur noch in der Erinnerung existiert.
Diese Figuren sorgen dafür, dass die Geschichte nie abhebt, sondern geerdet bleibt.
Zwischen Humor und Melancholie
Henns Stärke liegt im Changieren: Er erzählt von Trauer, Erinnerungslücken und verdrängten Wahrheiten, ohne den Roman ins Schwere kippen zu lassen. Die sprechenden kleinen Beobachtungen, die stillen Konflikte, die gelegentlichen humorvollen Momente – sie sorgen dafür, dass man in die Geschichte hineingleitet und erst spät merkt, wie tief sie tatsächlich geht.
Wahrheiten, die sich nicht festhalten lassen
Der oft zitierte Satz „Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter“ wäre schnell verbraucht, würde Henn ihn nicht brechen. Seine Figuren zeigen, dass Erinnerungen selten objektiv sind und dass ein Leben sich nicht auf eine einzige Version reduzieren lässt.
„Sonnenaufgang Nr. 5“ bleibt damit weit mehr als ein Wohlfühlroman: Es ist eine Einladung, die eigenen Erinnerungen zu betrachten – und die Leerstellen nicht zu fürchten.
Fazit
Ein warm erzählter, aber nicht süßlicher Roman über Erinnerung, Wahrhaftigkeit und die kleinen Mutproben des Lebens. Atmosphärisch dicht, klug komponiert und mit einer Ruhe, die lange nachhallt.















