
Selbstzerstörung als Prinzip? Wie der Westen an sich selbst scheitert
Kriege, Krisen, Kontrollverlust – die Welt taumelt. Auch der Westen wird davon nicht verschont. Doch laut dem deutschen Psychologen Josef Kraus sind es nicht äußere Konflikte wie der Ukrainekrieg oder die Spannungen im Nahen Osten, die Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA zu einer politischen Neuorientierung zwingen. Vielmehr hält er Entwicklungen wie Flüchtlings- und Klimapolitiken, Geburtenrückgänge oder Cancel Culture für Symptome eines tiefer liegenden Problems.
Die genannten Staaten, so Kraus, untergraben durch eine übersteigerte Toleranz ihre eigenen Grundwerte – etwa die Trennung von Kirche und Staat, die Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit oder die soziale Marktwirtschaft (Stichwort: Corona-Planwirtschaft der Pharmaunternehmen). Diese Tendenz wurzle in einer Scham- und Schuldkultur, die aus Angst, kolonialistische oder nationalsozialistische Muster zu reproduzieren, überkompensiere. Im Kern, so Kraus, sei diese Sorge weniger von echtem Rassismus- oder Klassismusbewusstsein geprägt – sondern von einer Selbstentfremdung.
Josef Kraus trifft die Achillesferse der Political Correctness
Kraus prangert die Eskalation eines rudimentären Kulturmarxismus an, der die Gleichwertigkeit aller Positionen suggeriert, dabei jedoch in Beliebigkeit, Gleichgültigkeit oder sogar Intoleranz umschlage. Seine Analyse will zeigen, warum der Westen gerade jetzt schwächelt – und wie es dazu kam.
Dabei trifft Kraus nicht nur die Achillesferse der Political Correctness, sondern auch wunde Punkte der Geschichtsvergessenheit. Warum etwa werde die Idee des Nationalstaats verteufelt, während gleichzeitig die EU mit der „Europawahl“ eine Form von Weltstaatlichkeit ohne klassische Gewaltenteilung propagiert?
Warum dürfen Minderjährige in Deutschland ihre Eltern verklagen, wenn diese eine Geschlechtsumwandlung ablehnen? Warum wird bei Kolonialismusdebatten der aktive Anteil islamischer Reiche übersehen – oder Chinas neue Kolonialmacht in Afrika? Warum wird Kinderverzicht zugunsten des Klimaschutzes moralisch aufgewertet? Und was ist von Staatskirchentagen zu halten, auf denen Genderpolitik zum Workshop-Thema wird – während der Staat nukleare Rhetorik mit biblischer Apokalyptik vermischt?
Strukturell aufschlussreich – aber nicht ohne Schwächen
Bei der Frage nach einer europäischen Armee bleibt Kraus vergleichsweise vage – obwohl er eine antiamerikanische Geopolitik kritisiert. Auch die Abschnitte zu den USA, Großbritannien und Frankreich bleiben eher skizzenhaft.
Viele Beispiele für doppelmoralische Ideologien sind aufschlussreich, wiederholen sich aber inhaltlich oder überschneiden sich thematisch. Eine straffere Gliederung oder andere Kapitelgewichtung wäre hier sinnvoll gewesen.
Ob Gender-Ideologien an Elite-Unis (z. B. Judith Butlers Einfluss), das Entfernen „problematischer“ Literatur aus Bibliotheken, Umbenennungen, Pro-Palästina-Camps, MeToo- oder Black-Lives-Matter-Bewegung – viele dieser Phänomene haben ihre Wurzeln in den USA und sind erst nach Europa übergeschwappt.
Stilistisch klarsichtig: Parallelen zu Orwells Dystopie
Stärken offenbart Kraus vor allem in der historischen und philosophischen Einordnung westlicher Dekadenzbegriffe. Damit vermeidet er eine undifferenzierte Pauschalkritik.
Wenig thematisiert wird jedoch, ob westliche Demokratien nicht schon früh anfällig für Missverständnisse oder manipulative Deutungen waren – wie etwa im Fall Israels, dessen Regierung keine feste Verfassung, sondern wandelbare Grundgesetze nutzt.
Besonders überzeugend gelingt Kraus die Übertragung von George Orwells 1984 auf aktuelle Sprachentwicklungen: die Einführung von Neologismen („Fußgehendenbrücke“) oder die ideologische Entleerung von Begriffen wie „wokeness“. Auch die Doppelmoral der kulturellen Aneignungsdebatte entlarvt er pointiert: Während Praktiken aus anderen Kulturen übernommen werden – Tattoos, Kajaks, Kanus – wird gleichzeitig eine moralische Schranke aufgebaut.
Ein Plädoyer ohne Radikalisierung
Trotz seiner Zuspitzungen bleibt Kraus in der demokratischen Mitte verankert. Er plädiert für eine „bürgerliche Leitkultur“ und einen starken Westen als intellektuelle Festung – ohne dabei in rechtsextreme Narrative oder spießbürgerliche Nostalgie zu verfallen.
Sein Ansatz stellt kulturelle Selbstverantwortung über kulturelle Bevormundung – und will Debatten anstoßen, nicht unterbinden.