Jörg Steinleitner: Mr. Pamuk, Sie haben das Buch „Das Museum der Unschuld“ geschrieben. Es ist eine Liebesgeschichte. Verraten Sie unseren Lesern bitte noch etwas genauer, um was es geht?
Orhan Pamuk: Es handelt von sämtlichen Facetten der Liebe. Es ist die Geschichte der Obsession eines Mannes aus der Oberschicht für eine entfernte und arme Verwandte. Der Roman erforscht all die typischen Situationen der Liebe: von zarten Gefühlen bis Wut und Eifersucht; von Obsession bis Mitleid. Ich habe versucht zu begreifen, was eigentlich mit uns geschieht, wenn wir uns verlieben. Dabei habe ich die Liebe aber nicht auf ein Podest gehoben. Ich wollte Liebe nicht als etwas zuckrig Süßes darstellen. Im Gegenteil kommt es mir manchmal wie eine Art Elend vor, an dem ich mich labe. Die Geschichte spielt zwischen 1975 und 1985 in Istanbul. Aber natürlich werde ich die genaue Handlung hier nicht erzählen.
Jörg Steinleitner: Was hat es mit dem Titel „Das Museum der Unschuld“ auf sich?
Orhan Pamuk: Die Antwort auf diese Frage überlasse ich dem Leser. Schuldlos? Vielleicht! Naiv? Mag sein! Rein? Möglich! Meine Titel erklären das Buch nicht. Aber sie verraten etwas über das Wesen der Geschichte. Das Buch handelt auch von der Natur der Obsession und von Sammelleidenschaft.
Jörg Steinleitner: Sie werden das Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen. Neben Ihnen werden rund 350 andere türkische Schriftsteller auf der Buchmesse vertreten sein. Mit welchen Hoffnungen für die Literatur Ihres Landes reisen Sie nach Frankfurt?
Orhan Pamuk: Ich bin froh, dass die deutschen Leser der Türkei und ihren Autoren nun mehr Aufmerksamkeit schenken wird. Es macht mich glücklich, dass „Das Museum der Unschuld“, der Roman, an dem ich die letzten sechs Jahre gearbeitet habe, etwa gleichzeitig in der Türkei und in Deutschland veröffentlicht wird. Dieser Roman hat mich viel Mühe gekostet. Ich freue mich, dass er nun fertig ist. Er beinhaltet alles, was ich im Leben kennengelernt und gesehen habe. Mit Leben meine ich das Leben in Istanbul, in meiner Ecke der Welt. Es dreht sich um die Menschen und Straßen, die mir am meisten vertraut sind. Diese Vorstellung macht mich glücklich. Und dass deutsche Leser in ihrer Phantasie diese Straßen hinunterlaufen werden, finde ich aufregend.
Jörg Steinleitner: Wenn Sie „die türkische Literatur“ mit den Literaturen anderer Länder vergleichen – was zeichnet sie aus Ihrer Sicht besonders aus?
Orhan Pamuk: Die türkische Literatur wurde nie als Bestandteil der von Goethe so genannten Weltliteratur angesehen. Ihre Stärken und Schwächen kommen zum Teil genau von dieser Provinzialität und Andersartigkeit. Nun wird sie auf die Weltbühne gehoben. All die Probleme der Repräsentation, aber auch neue Perspektiven werden nun öffentlich.
Jörg Steinleitner: Welchen lebenden türkischen Autoren schätzen Sie persönlich besonders und weshalb?
Orhan Pamuk: Tanpinar, ein sehr durchdachter Schriftsteller, der 1960 starb, war immer mein Held. Ich habe in “Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt” über ihn geschrieben. Er war sowohl mit westlicher Kunst vertraut, zum Beispiel mit Proust oder Gide, als auch mit der ottomanischen Kultur.
Jörg Steinleitner: Das Schicksal hat in den letzten Jahren mit Ihnen Ping-Pong gespielt: Sie wurden wegen „Beleidigung des Türkentums“ angeklagt, Porträts Ihres Gesichts wurden in Ihrem Heimatland verbrannt und dann wurden Sie der erste türkische Literaturnobelpreisträger der Geschichte. Wie präsent sind diese Erfahrungen für Sie in Ihrem Alltag?
Orhan Pamuk: Mein Lieblingskind “Museum der Unschuld” zu schreiben hat mich wohl gerettet. Wann immer es Schwierigkeiten privater oder politischer Art gab, konnte ich mich meinem Roman zuwenden und mich mit der Freude, die ich in ihm fand, schützen. Vielleicht hat er jetzt auch deshalb 600 Seiten.
Jörg Steinleitner: Gleich nachdem Sie erfahren hatten, dass Sie den Nobelpreis verliehen bekommen, fragten Sie sich in einem Interview: „Wird man in der Türkei stolz auf mich sein?“ Wie ist es nun gekommen – ist die Türkei stolz auf Orhan Pamuk?
Orhan Pamuk: Diese Fragen nach Stolz und nationaler Würde sind endlos. Es gibt nie eine wirkliche Lösung für diese Sorgen, aber sie sind immer da. Ich fühle mich am besten, wenn ich all diese Probleme vergessen und in meine Charaktere schlüpfen und über sie schreiben kann, sie sprechen lassen kann … Ich kann meine Probleme nicht direkt ansprechen.
Jörg Steinleitner: Inwiefern hat die Türkei von der Preisverleihung an Sie profitiert?
Orhan Pamuk: Darüber möchte ich mich nicht äußern. In der Literatur sollte es ohnehin nicht darum gehen, Nutzen aus etwas zu ziehen. Ich bin froh, dass meine Bücher in 56 Sprachen übersetzt wurden und meine Arbeit der letzten 35 Jahre anerkannt wird.
Jörg Steinleitner: Wie hat sich der Nobelpreis auf Ihre eigene Arbeit ausgewirkt – fühlen Sie sich beflügelt oder eher befangen?
Orhan Pamuk: Der Preis hat mein Bankkonto und meinen E-Mail-Account anwachsen lassen. Ich habe viele neue Leser auf der ganzen Welt dazu gewonnen. Nun möchte ich ihnen meine Geschichten noch zärtlicher erzählen als je zuvor. Nach dem Nobelpreis habe ich noch härter und intensiver als zuvor gearbeitet, vielleicht wegen des politischen Drucks, den ich vergessen wollte.
Jörg Steinleitner: Im Sommer leben Sie in Ihrem Haus auf der Istanbuler Insel Heybeli und gehen täglich schwimmen. Waren Sie heute auch schon im Meer beim Schwimmen?
Orhan Pamuk: Nein, noch bin ich in der Stadt. Tatsächlich haben wir heute am türkischen Cover für “Das Museum der Unschuld” gearbeitet. Es wird anders als das deutsche Cover.
Jörg Steinleitner: Bereits Ihr letztes Buch “Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt” wurde in Deutschland mit Begeisterung aufgenommen. Geben Sie uns bitte noch einen ganz persönlichen Istanbul-Tipp: Welches ist Istanbuls „literarischster“ Ort und weshalb?
Orhan Pamuk: Ich habe mein ganzes Leben in Istanbul gewohnt, da ist es natürlich, dass ich die Geschichten dieser Stadt aufschreibe. Das Istanbul der 1950er und 60er Jahre war ein besonders poetischer Ort. Wir alle erinnern uns an unsere Wohnungen, Straßen, Nachbarschaften auf poetische Weise. Das ist eine gute Art des Erinnerns. Bosporus, Taksim Platz, Beyoglu, Goldenes Horn. Das sind die für mich einprägsamsten und poetischsten Orte in Istanbul. Ich glaube außerdem, dass ich die Stadt realistisch dargestellt habe. Ich mag das touristische Istanbul nicht. Mir gefällt das Istanbul mit seinen schwarz-weißen Wintern, mit seiner Traurigkeit und provinziellen Innerlichkeit; ganz besonders seine Landschaft, seine Leute und seine außergewöhnliche Art, stets lebendig zu sein. Allerdings verändert sich die Stadt, wenngleich nicht unbedingt zum Schlechteren.
Jörg Steinleitner: Mr. Pamuk, vielen Dank für das Gespräch.