Wenn Simon Jäger Fitzeks „Das Geschenk“ liest, stockt einem der Atem
Der Schauspieler Simon Jäger hat eine außergewöhnliche Stimme. Sie ist markant und eindringlich und deshalb für die Interpretation von Sebastian Fitzeks perfiden neuen Thriller die perfekte Wahl. In „Das Geschenk“ zieht uns der Synchronsprecher von Matt Damon und Josh Hartnett in eine Geschichte hinein, die unerhört, raffiniert und gruselig ist.
Milan Berg sieht in dem Auto neben sich ein weinendes Mädchen
Milan Berg steht an einer Ampel, als die grüne Volvo-Limousine sehr dicht neben ihm hält. Milans Blick fällt ins Innere des Fahrzeugs. Was er sieht, wird für immer sein Leben verändern. Im ersten Moment denkt er, ein kleines Kind würde auf dem Rücksitz herumspielen und zum Spaß einen Werbezettel an die Scheibe pressen. Doch als sich der Zettel für einen kurzen Augenblick löst und der Kopf dahinter zu sehen ist, wird Milan klar, dass da kein Kleinkind sitzt, sondern ein Mädchen, das bitterlich weint.
Sie hat weizenblondes Haar in einem Pferdeschwanz – und Sorgenfalten
Was zum Teufel …? Ihr Gesicht ist angstverzerrt. Die großen Augen sind so aufgequollen wie Milans eigene, wenn er Heuschnupfen hat. Kakifarben, denkt er, ist sich aber nicht sicher, ob diese besondere Färbung ihrer Iris an der Tönung der Scheibe liegt, hinter der das Mädchen weint. Sie hat weizenblonde Haare, zum Pferdeschwanz gebunden. Eine pinkfarbene Spange mit funkelnden Strasssteinen hält den Pony aus der Stirn, die für einen so jungen Menschen schon viel zu viele Sorgenfalten aufweist. Die Kleine ist höchstens dreizehn, doch in dem Moment, in dem sich ihre Blicke kreuzen, hat er den Eindruck, dass ihre Augen genug für ein ganzes Leben gesehen haben. Und da ist noch etwas, was er in ihnen erkennt. Sich selbst.
Die Lippen des Mädchens drücken ein stummes Flehen aus
In einer Fernsehdokumentation hat er einmal von der psychologischen Theorie gehört, nach der Menschen immer dann Zuneigung füreinander empfinden, wenn sie in der Kindheit ähnliche seelische Verletzungen erleiden mussten. Ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl, gewebt aus psychischen Grausamkeiten, spürt Milan beim Anblick der Kleinen. Die Lippen des Mädchens bewegen sich nicht. Es ist ein stummes Flehen. Das, was sie angstvoll in die Welt hinausschreien will, hat sie offenbar auf den linierten Zettel geschrieben, den sie nun wieder gegen die Scheibe drückt. Eine in der Mitte gefaltete DIN-A4-Seite, wie hastig aus einem Schülerblock herausgerissen. Ein Hilferuf?
Milan würde dem Mädchen gerne helfen, aber da gibt es ein Problem
Milan schießen Tränen in die Augen. „Ich bin Analphabet“, flüstert er dem Mädchen zu. Er würde diese Worte auch laut sagen, sie schreien, wenn er eine Chance sehen würde, dass die Kleine ihn verstehen würde – bei geschlossenen Fenstern im Verkehrslärm. Denn aus jenem logisch nicht erklärbaren Gefühl der Verbundenheit heraus vertraut er ihr. Es zerreißt ihm das Herz. Sie braucht Hilfe, und die kann er ihr nicht geben. Er versteht ihre Not, aber nicht, was sie ihm mitteilen will. Doch er spürt: Das Mädchen ist in tödlicher Gefahr. Und so nimmt Milan die Suche auf. Womit für ihn ein Albtraum seinen Lauf nimmt. Eine wahnwitzige Irrfahrt der Gewalt, an deren Ende eine grausame Erkenntnis steht: Manchmal ist die Wahrheit zu entsetzlich, um mit ihr weiterzuleben – und Unwissenheit das größte Geschenk auf Erden.