
Helga Schubert ist 85 Jahre alt, als sie diesen Band vollendet. Und doch klingt aus jeder Zeile die Klarheit einer Frau, die das Leben immer noch befragt. „Luft zum Leben“ versammelt neue, unveröffentlichte und wiederentdeckte Texte – Erzählungen, Aufsätze, kleine Beobachtungen – aus 65 Jahren Schreiben. Es sind Geschichten über das Weitergehen, über Mut und Verlust, über Liebe und das Alter. Und über die leise Kunst, sich mit dem Leben zu versöhnen, ohne es schönzureden.
Eine Frau flaniert in den frühen Achtzigern durch Ostberlin, nur um einmal nicht zuerst zu Hause zu sein. Eine Schriftstellerin wartet in Moskau auf die Primaballerina Ulanowa – und erlebt Unverhofftes. Ein Kind atmet zum ersten Mal ein, eine Großmutter zum letzten Mal aus. Schubert beobachtet, ohne Pathos, aber mit Wärme und Präzision. Sie verwandelt Lebensgeschichte in Literatur – lakonisch, genau und mit einem tiefen Sinn für Würde.
In ihrem Vorwort blickt Helga Schubert zurück auf Jahrzehnte, in denen sie schrieb, schwieg, aufbewahrte. Manche Texte durften in der DDR nicht erscheinen. Sie bewahrte sie in Aktenordnern auf – als stillen Akt der Selbstbehauptung. Ihr Schreiben, sagt sie, sei der Versuch gewesen, „sich der eigenen Welt zu vergewissern“.
So werden ihre Erzählungen zu Zeitzeugnissen und Lebenslektionen zugleich. In der titelgebenden Geschichte „Luft zum Leben“ erzählt sie von Mutterschaft und Einsamkeit, von Verantwortung und innerer Stärke. Eine junge Frau bringt ein Kind zur Welt, wächst an seiner Nähe – und lernt, dass Liebe nicht Sanftheit, sondern Ausdauer bedeutet. In einer anderen Szene droht der Sohn beim Militär an seiner Gasmaske zu ersticken – ein Bild für das Ersticken im System, aber auch für das Überleben inmitten der Enge.
Helga Schubert, die 2020 mit ihrer Erzählung „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, beweist mit „Luft zum Leben“ erneut ihre große literarische Kraft. Ihre Sprache ist ruhig, unaufgeregt – und gerade dadurch von seltener Tiefe.









