
Ein Mädchen, das alles verliert – und einen Ort findet, den es nicht geben dürfte
Nürnberg, 1938: An einem schicksalhaften Abend beginnt für Lisavet Levy ein neues Leben – eines, das sich nicht an Zeit oder Raum hält. Ihr Vater bringt sie in den geheimnisvollen „Zeitraum“, eine Bibliothek voller menschlicher Erinnerungen, die in Büchern bewahrt werden. Zwischen endlosen Regal-Schluchten wird Lisavet allmählich klar: Was hier geschützt wird, kann ebenso leicht ausgelöscht werden. Und jene, die darüber entscheiden, die sogenannten Zeithüter, sind alles andere als neutral.
Hayley Gelfuso entwirft diesen Ort mit feiner Hand. Die Regeln, die Funktionsweise der Bücher, die verschlungenen Zeitebenen – alles erschließt sich nach und nach. Dieser sanfte Einstieg entwickelt sich bald zu einer Erzählung über Macht, Verlust und die Frage, wie Geschichte entsteht.
Wenn Erinnerungen und Geschichten brennen
Besonders eindrucksvoll geraten die Momente, in denen die Zeithüter ganze Leben auslöschen – Seite für Seite, bis nur der Einband bleibt. In solchen Szenen zeigt Gelfuso, wie fragil Wahrheit ist. Lisavet entdeckt schon bald, wie sie die Bücher vor dem Feuer retten kann. Ihr stiller Widerstand, ihr Sammeln „verbotener“ Erinnerungen, besticht durch eine ganz besondere Intensität.
Parallel dazu wächst eine zweite Ebene heran: Boston, 1960er Jahre. Amelia, die selbst in die Mechanik des Zeitraums hineingezogen wird, folgt Spuren, die weit in die Vergangenheit reichen. Ihre Kapitel öffnen den Blick, ohne die Spannung zu verraten.
Poetisch, klar – und voller Fragen, die uns alle bewegen
Gelfusos Sprache hält die Balance: atmosphärisch, aber nie süßlich; poetisch, ohne sich zu verlieren. Der Roman lebt von seinen Bildern – Staub in der Luft, das Knistern von Papier, ein Sternenhimmel über endlosen Regalen – und von Figuren, die für ihre Wahrheit kämpfen, selbst wenn der Preis hoch ist.
Nicht jede Wendung überrascht vollkommen, doch das schmälert die Wirkung keineswegs. Im Zentrum bleibt eine Idee, die heute aktueller wirkt denn je: Wie leicht sich Erinnerung manipulieren lässt – und wie notwendig es ist, sie zu bewahren.
Ein Debüt, das leuchtet
„Das Buch der verlorenen Stunden“ ist kein leichter Spaziergang durch eine fantastische Welt. Es ist ein Roman, der fordert, der seine Leser*innen mitdenken lässt – und der genau dadurch berührt. Die leise Liebesgeschichte, die politische Ebene, der Blick auf Identität und Vergangenheit: All das greift ineinander und schafft ein Werk, das tief wirkt, ohne laut zu sein.
Wer Geschichten liebt, in denen Bibliotheken zu lebendigen Orten werden, in denen Wahrheit mehr ist als ein Wort und Magie immer eine moralische Entscheidung bleibt, wird hier fündig. Dies ist ein Roman, der nachklingt – und den man mit einem spürbaren Erwartungsgefühl aufschlägt.












